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so groß nötig. Diese Schulen werden ihre Sprüchlein bald ausgestammelt haben. Der Geist
der Zeit hat sich, wenn nicht alles trügt, gewendet, er kehrt sich von der öden
Tatsachenjägerei ab, er fordert von jeder geistigen Wissenschaft auch eine geistige Weise,
eine Weise und einen Weg, der auf den Gehalt selbst geht, nicht aber im Äußerlichen
steckenbleibt.
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Nötiger dagegen ist es, den Freunden dieses wahrhaften Verfahrens ein ernstes Wort zu
sagen. Wer einen nicht-naturwissenschaftlichen Weg in den Gesellschaftswissenschaften
sucht, darf nicht in bloßen Formalismus verfallen, wie dies die neukantischen Schulen der
Gegenwart einschließlich der phänomenologischen tun; er muß den Mut haben, die
Folgerungen aus der Abkehr von jenem äußerlichen Wege zu ziehen. Gewiß muß die
Wissenschaft, die nach dem nicht-naturwissenschaftlichen Verfahren entsteht, eine ebenso
große S t r e n g e wie die naturwissenschaftlichen Fächer aufbringen — aber ist darum
dieses Ziel auch in gleicher W e i s e wie bei den Naturwissenschaften erreichbar? Das ist
unmöglich. Man darf nicht in den Fehler verfallen, durch leeren Formalismus selbst wieder
eine Äußerlichkeit eigener Ordnung zu schaffen. Man darf die Kategorien des
Unmechanischen nicht wieder mechanisch, das Sinnvolle nicht wieder ohne Sinn, das Innere
nicht äußerlich haben wollen. Der Mensch scheut und sehnt sich zugleich aus seinem
gewöhnlichen Selbst und seinem Geleise herauszutreten. Aber diese Scheu muß überwunden
werden, soll das Innere ans Licht kommen. Wir dürfen in den Geisteswissenschaften vor
jenem Begriffe der Innerlichkeit nicht zurückschrecken, den der Sachgehalt erfordert, und
müssen uns wieder mehr dem mittelalterlichen Begriff der Wissenschaft nähern, den Notker
der Deutsche vor fast tausend Jahren dahin aussprach: „Sie ist aber verborgen im Geheimen,
wie alle Wissenschaft, das heißt im innern Herzen.“
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Hiermit wird die Wissenschaft noch
nichts „Subjektives“, wie unser naturwissenschaftlich beschiedenes Zeitalter wähnt, aber es
werden freilich höhere Anforderungen an den Forscher und Menschen gestellt als beim
Wägen und Messen, bei den „Hebeln und Schrauben“, auf die das ursächliche Verfahren
angewiesen ist. Im nicht-naturwissenschaftlichen Verfahren kann ohne eine gewisse
Erfassung von Sinn und Ganzheit nichts ausgerichtet werden. Diese Erfassung ist gleicher
Strenge fähig wie die naturwissenschaftliche Messung, weil die Wirklichkeit mit dem Begriff
übereinstimmen muß; aber gleich äußerlicher Kategorien wie jene Messung ist sie darum
nicht ebenfalls fähig, sondern sie hat die ihr arteigenen Kategorien. Wie nur dort echte
Ganzheit ist, wo das Ganze in jedem einzelnen Teile wohnt und lebt, so auch nur dort das
rechte gesellschaftswissenschaftliche Verfahren, wo das Wissen aus dem Brennpunkt der
Ganzheit, aus dem über den Teilen stehenden Zusammenhange heraus auf das Einzelne Licht
verbreitet.
W i e n , im August 1922
Othmar Spann
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Angeführt bei Paul Theodor Hoffmann: Der mittelalterliche Mensch, Gotha 1922, S.
177.