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[XI/XII]
Spencer, Schäffle, Wundt und viele andere gepflegt wurde, sehr in Zweifel ziehen. Ist heute
schon in der Naturwissenschaft der Darwinismus in wesentlichen Stücken erschüttert, wenn
nicht entthront, um wieviel mehr Ursache hat die Gesellschaftswissenschaft, auf ihrem
Gebiete mit der Anwendung seiner Grundsätze vorsichtig zu sein. Schon das ist nicht richtig,
in den Zuständen der Naturvölker grundsätzlich frühere Entwicklungsstufen zu sehen. Was
uns heute als primitiv entgegentritt, ist nicht immer das geschichtlich, noch weniger das
logisch Frühere, es gibt auch Entartungen, rassenmäßige Minderwertigkeit, pathologische
Verbildungen. Solche Entwicklungsforschungen sind daher oft / sehr zweifelhafter Art. Vor
allem aber sind es die Grundsätze der Darwinischen Betrachtungsweise selbst: Auslese durch
den Kampf ums Dasein und Variation des Nachkommenden, die, wenn sie schon auf
naturwissenschaftlichem
Gebiete
heftig
bestritten
werden,
auf
gesellschaftswissenschaftlichem Gebiete von vornherein nur einen weit engeren Sinn, nur
einen uneigentlichen, übertragenen Geltungsbereich haben. Die Arbeit, welche bis jetzt die
völkerkundlich gerichtete Gesellschaftslehre leistete, muß aus diesen Gründen jedenfalls in
großem Maßstabe als verfehlt betrachtet werden, denn sie beruht auf kritikloser Anwendung
jener Darwinischen Sätze. Daher, so glaube ich, muß die Gesellschaftslehre diesen Weg
zunächst einmal ganz verlassen und mit eigener Begriffsarbeit beginnen.
Aber das Übel reicht noch weit über die rein methodischen Verfehlungen hinaus. Der
Darwinismus, soweit er Gesellschaftslehre und Weltanschauung, also mehr sein will als eine
rein naturwissenschaftliche Theorie, ist im Verein mit dem historischen Materialismus zum
eigentlichen Kulturschaden der modernen Epoche geworden. Beide Theorien sind barbarisch
im buchstäblichen Sinne des Wortes: der Darwinismus, indem er der Welt ihre
metaphysische Wurzel, der historische Materialismus, indem er den Kulturinhalten der
Gesellschaft ihre eigene sittliche Würde absprechen will. Es ist eine innerste Entwertung der
Welt und des menschlichen Lebens, welche jener durch die grobe Mechanisierung aller
Entwicklung bewirkt (und nur notdürftig durch das verworrene Ideal der „Höherbildung des
Menschen“ verkleistert), und welche dieser durch Zurückführung der höchsten
Kulturinhalte auf die Wirtschaft noch ins Einzelnste fortsetzt. Haben nun in der
Naturwissenschaft die Mendelschen Gesetze, indem sie die Beständigkeit der Arten an die
Stelle
ihrer
ursprünglichsten
Veränderlichkeit
setzen,
jenen
Darwinischen
Entwicklungsmechanismus in Frage gestellt, so daß die Entstehung der Arten heute so unklar
ist, wie je, so bedarf es zur Entthronung des historischen Materialismus keines Mendel, bloß
einer starken Zugabe an philosophischer Bildung. Von Platon bis Kant und Hegel ist jeder
Philosoph ein Mendel, der die Macht hat, den ökonomischen (samt dem Darwinischen)
Materialismus zu zerstören. Heute aber bringen es neuere Kantianer fertig, sowohl Kant wie
den historischen Materialismus zu predigen und den paradoxen Feldruf „Kant und Marx“
auszugeben — ein trauriges Akrobatenstück widerspruchsvollen Denkens.
Dies alles hat es verursacht, daß das vorliegende Buch andere als die bisherigen Wege
ging. Die reine Begriffsarbeit auf der einen Seite, die systematische Anknüpfung an die
Philosophie auf der andern — das muß jetzt in den Vordergrund treten. Aber auch wenn
einmal ein weitschichtiger beschreibendempirischer Unterbau der Gesellschaftslehre
vorhanden sein wird, wird beides immer an erster Stelle bleiben müssen. Denn Beschreibung
ist ohne Begriffe nicht möglich und die Urbegriffe der Gesellschaft, unseres größeren Ich,
nicht ohne Philosophie. Also doch die Philosophie der erste Urgrund.
B r ü n n , im Januar 1914
Othmar Spann /