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Tönnies ist durchaus marxistisch und naturrechtlich eingestellt, eben darum durchaus

naturalistisch in seinem Verfahren, strebt aber auch eine geschichtliche Begründung seiner

Lehre an, und zwar in einem Rahmen, den ihm die materialistische Geschichtsauffassung

Marxens vorschreibt.

Tönnies unterscheidet „Gemeinschaft“ von „Gesellschaft“ in dem Sinne, daß

„Gemeinschaft“ die naturgewachsenen, sozusagen organischen Gebilde, wie z. B. die Familie,

umfaßt, „Gesellschaft“ dagegen die künstlichen, vertraglichen, willkürlichen Gebilde, wie z.

B. Aktiengesellschaft. Der „Gemeinschaft“ entsprechen nach Tönnies die Kategorien:

Wesenwille (mehr triebartig), Selbst, Besitz, Grund und Boden, Familienrecht; der

„Gesellschaft“: „Kür- / wille“ oder „Willkür“ (z. B. geschäftliches Denken), Person,

Vermögen, Geld, Obligationenrecht

1

. — Aus der Unterscheidung von Gemeinschaft und

Gesellschaft folgt für Tönnies, daß das rationale Naturrecht durch den Vertrag nur die

Tatsachen der „Gesellschaft“, nicht der „Gemeinschaft“ erklären könne. In der

geschichtlichen Entwicklung „steigert sich das Kunsthafte gegen das Natürliche“, die

„Gesellschaft“ gegen die „Gemeinschaft“

2

.

Der Verfasser nennt diese seine Unterscheidung eine „fundamentale soziologische

Erkenntnis“

3

. Aber selbst wenn sie richtig wäre —was nicht der Fall ist — könnte sie bei dem

Gemisch naturrechtlicher, marxistischer und geschichtlicher Gesichtspunkte, die Tönnies

bei ihrer Durchführung heranbringt, nicht fruchtbar gemacht werden. Auch die rein

naturalistische, kausalmechanische, oder, was dasselbe ist, naturwissenschaftliche Auffassung

der Gesellschaft hindert Tönnies an fruchtbarer Verwertung. Nach ihm lehrt gerade die

Gesellschaftslehre allen vergleichend-geschichtlichen Disziplinen wie Rechts-, Wirtschafts-,

Staatengeschichte,

Mythologie:

„ D i e

A u s s c h e i d u n g

a l l e r . . .

t h e o l o g i s c h e n Ü b e r l e b s e l , d i e u n b e d i n g t e A n w e n d u n g d e s

D e n k g e s e t z e s d e r n a t ü r l i c h e n K a u s a l i t ä t , a l s o d e n A n s c h l u ß

a n d i e N a t u r w i s s e n s c h a f t e n , d i e . . . auf diesem Wege ihre... Früchte

gezeitigt haben.“

4

Es zeugt von dem Tiefstande der philosophischen Bildung in Deutschland,

daß die platte und bei genauem Zusehen durchaus nicht neue Unterscheidung von

„Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ so große Beachtung finden konnte. Daß die Entwicklung

zu immer mechanischeren, kapitalistischeren Formen hindrängt, lehrte die materialistische

Geschichtsauffassung Marxens längst. Daß eine im strengen Sinne mechanische

„Gesellschaft“ einer organischen „Gemeinschaft“ gegenübertreten soll — ist aber unrichtig!

Es g i b t g a r k e i n e m e c h a n i s c h e „ G e s e l l s c h a f t “ ; e s g i b t a b e r

a u c h k e i n e „ G e - m e i n s c h a f t “ i n j e n e m n a t u r a l i s t i s c h e n ,

p h y s i o l o g i s c h o r g a n i s c h e n S i n n e , i n d e m s i e T ö n n i e s

v e r s t e h t . G e m e i n s c h a f t g i b t e s n u r i n d e m r e i n g e i s t i g e n

S i n n e d e r G e z w e i u n g

5

. Die Gezweiung kann freilich verschiedene äußere und

auch physio

1

Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft (1887), 2 Aufl., Berlin 1912, S. 223

[4. Aufl., Berlin 1923]. Vgl. zum Obigen auch meine Auseinandersetzung mit Tönnies in: Ein

Wort an meine Gegner auf dem Wiener Soziologentage, jetzt abgedruckt als Anhang meines

Buches: Tote und lebendige Wissenschaft, 3. Aufl., Jena 1929, S. 427 ff.

2

Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft,... S. 247.

3

Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft,... S.

XIII.

4

Ferdinand Tönnies: Soziologie und Geschichte, in: Die Geisteswissenschaften, Jg I,

Leipzig 1913, S. 58, von mir gesperrt.

5

Siehe unten S. 129 ff. und S. 143 ff.