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Simmel erklärt, daß gesellschaftliche Erscheinungen stets Komplexe,
Gesamtzustände (Kollektiva) aus Elementen seien. Für die Komplexe als
solche gebe es aber keine selbständige Gesetzmäßigkeit, daher auch keine
selbständige Wissenschaft, da die Elemente ja bereits allseitiger
Erforschung unterliegen. Erscheint es uns, so sagt Simmel, als
gesetzmäßig, daß zum Beispiel der Gesamtzustand A in den
Gesamtzustand B übergeht, so doch nur, indem wir dieses Übergehen in B
auf Rechnung der Wirksamkeit der B e s t a n d t e i l e von A setzen. Es
bestehe A aus a, b, c, dagegen B aus
a, ß, y.
„Daß nun etwa a die Folge
a
gehabt hat, erkennen wir, wenn wir eine Folge B’ auf A’ beobachten,
wobei A’ aus a, d, e, B’ aus
a,
d, £ besteht“
1
(das heißt y bestätigt sich als
Ursache von x, weil die Bestandteile b, c in A’ fehlen). Eigentliche Gesetze
des Geschehens gibt es also nach Simmel nur hinsichtlich der letzten
Elemente. Es folgt daraus:
„ I s t d i e G e s e l l s c h a f t n u r e i n e i n u n s e r e r
B e t r a c h t u n g s w e i s e
v o r
s i c h
g e h e n d e
Z u s a m m e n f a s s u n g v o n e i n z e l n e n . . . , d i e d i e
e i g e n t l i c h e n R e a l i t ä t e n s i n d , s o b i l d e n d i e s e
u n d i h r e I n h a l t e a u c h d a s e i g e n t l i c h e O b j e k t d e r
W i s s e n s c h a f t , u n d d e r B e g r i f f d e r G e s e l l s c h a f t
v e r f l ü c h t i g t s i c h . “
2
Simmel kommt zu dem Schlusse, daß der
Begriff des Gesamtzustandes überhaupt nur als praktischer Hilfsbegriff
zulässig ist
3
, wodurch die a l l g e m e i n e Gesellschaftslehre eine bloß
äußerliche Sammeldarstellung ohne eigenen Gegenstand würde.
Mit dieser Zergliederung hat Simmel in der Tat die letzten Folge- /
rungen aus dem Begriff der Wechselwirkung, wie er schon bei
1
Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 2. Aufl., Leipzig 1905, S. 68;
siehe unten S. 623.
2
Georg Simmel: Uber soziale Differenzierung, 2. anastatischer Neudruck der Auflage von
1890, Leipzig 1903, S. 10 (= Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen, Bd 10);
Probleme der Geschichtsphilosophie, Leipzig 1892, S. 34 ff.
3
Vergleiche: Uber soziale Differenzierung, . . . S. 12; Soziologie, .. . S. 5 f. „Einheit im
empirischen Sinne ist nichts anderes als Wechselwirkung von Elementen: ein organischer
Körper ist eine Einheit, weil seine Organe in engerem Wechseltausch ihrer Energien stehen
als mit irgendeinem äußeren Sein“ — h i e r w i r d d e r G e s a m t z u s t a n d z u m
G r a d b e g r i f f , zur mechanischen, bloß graduellen Einheit!! Und der Organismus selbst
wird dabei als Inbegriff chemisch-physikalischer Wirkungen gedacht, a l s o
m e c h a n i s c h , n i c h t i m e c h t e n , g e i s t i g e n S i n n e o r g a n i s c h !