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„Chance“ beweist; dadurch wurde er sowohl im induktiv-naturwissenschaftlichen Verfahren
festgehalten, das aber wieder seiner geschichtlichen Einstellung zuwider war, wie auch
notwendig in eine atomistische, individualistische Stellung gedrängt. In seiner
Religionssoziologie will er die Religion behandeln, ohne die Religiosität zu verstehen, ohne
das Metaphysische gelten zu lassen. Als Erkenntnistheoretiker kam er über eine laienhafte
Vermischung von Empirismus und Windelband-Rickertischer Logik nicht hinaus
1
.
VI. Die psychologische Schule
Die heute wichtigste Untergruppe der
induktiv-naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre bilden die
psychologischen Schulen. / Die „psychische Wechselwirkung“ der
Menschen ist der Gegenstand der Soziologie der psychologischen
Richtungen jeder Schattierung. In einem engeren Sinne gehören ihr die
folgenden Verfasser an:
Älteres Schrifttum:
G a b r i e l T a r d e : Les lois de l’imitation,
1.
Auflage, Paris 1890 (seither viele Auflagen); Die sozialen Gesetze, deutsch von Hans
Hammer, Leipzig 1910 (= Philosophisch-soziologische Bücherei, Band 4). Tardes
Grundgedanke lautet: Das Wesen der Gesellschaft ist im psychologischen Vorgang der
Nachahmung gegeben. „La societe c’est l´imitation.“ E m i l e W a x w e i l e r : Esquisse
d’une Sociologie, Fascicule 2 des Notes et Memoires, Institut de Sociologie, Institut Solvay,
Bruxelles, Leipzig 1906 (Soziologie ist die Lehre von der sozialen Affinität). G u s t a v v o n
R ü m e l i n : Uber den Begriff des sozialen Gesetzes, in: Reden und Aufsätze, Tübingen
1875 (Gesetz: Die Massenwirkungen psychischer Kräfte); Uber den Begriff der Gesellschaft,
in: Kanzlerreden, Tübingen 1907. Auch H u g o M ü n s t e r b e r g , F r i e d r i c h
W i e s e r , W i l l y H e l l p a c h , G u s t a v S t e f f e n : Die Grundlage der Soziologie,
Jena 1912, gehören dieser Richtung an.
Von N e u e r e n sei genannt: W i l l i a m M a c D o u g a l l : Introduction to Social
Psychology, 4. Auflage, London 1912, deutscher Titel: Grundlagen einer Sozialpsychologie,
nach der 21. Auflage aus dem Englischen übersetzt von Gerda Kautsky, Jena 1928 (Ableitung
des sittlichen Lebens aus den Instinkten, den „ursprünglichen sozialen Kräften“, und zwar im
besondern aus den Instinkten der Unterordnung, zum Teil Abhängigkeit von Gabriel Tarde);
The group mind, Cambridge 1921. K a r l B r i n k m a n n : Versuch einer
Gesellschaftswissenschaft, München 1919; Gesellschaftslehre, Berlin 1925. E d w a r d
A l s w o r t h R o s s : Principles of Sociology, London 1920, deutscher Titel: Das Buch der
Gesellschaft, übersetzt von Rose Hilferding, Karlsruhe 1926. C h a r l e s E l l w o o d : Das
seelische Leben der menschlichen Gesellschaft, deutsch von Hans Lorenz Stoltenberg,
Karlsruhe 1926. Max S c h e l e r : Wesen und Formen der Sympathie, 2. Auflage, Bonn
1923
2
.
1
Vergleiche die Kritik in meinem Buch: Tote und lebendige Wissenschaft,
2.
Aufl., Jena 1925 [5. Aufl., Graz 1967]. — Vergleiche auch unten: Ethnologische
Religionssoziologie, S. 390 ff.
2
Über Max Scheler, Theodor Litt und Leopold von Wiese siehe unten S. 50 f.