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zu tun und die andern unterzukriegen. Nicht diese sind seine (ihn „beeinflussenden“)
Gegenspieler, sondern er macht sie sich erst zu solchen — so müßte der Individualist die
Sachlage erklären.
Ähnlich geht es durch das ganze Leben hindurch. Jeder bleibt was er ist
— als selbstwüchsiges geistiges Wesen.
Wir haben uns bei dem Begriff der Selbstwüchsigkeit lange aufgehalten,
da auf ihm als der letzten Folgerung alles beruht. Doch durfte hier nichts
unklar bleiben. Der Begriff des Einzelnen ist die Tragsäule alles
individualistischen Denkens, wie der Begriff des Ganzen jene des
universalistischen. Wer sich in der Gesellschaftslehre auskennen und
durch das verworrene Gestrüpp naturalistischer / Scheinwissenschaft
durchkommen will, für den kommt alles darauf an, den Begriff des
absoluten Einzelnen erfaßt zu haben. Für den Individualismus gleicht der
Geist des Einzelnen dem Samenkorn, das zwar Erde, Wasser und Licht als
äußere Hilfsmittel braucht, um zu gedeihen, aber auf diesen als auf seiner
bloßen Grundlage sich selbst nach eigenem Gesetze und allein entfaltet.
Um aber nicht nur begriffliche Klarheit zu erlangen, sondern auch den
ganzen lebendigen Inhalt der individualistischen Idee des Einzelnen zu
erfassen, gilt es noch, die lebendigen Typen, die Urbilder des Lebens,
kennenzulernen, wie sie dem Individualismus, der die Jahrhunderte
bewegt hat und noch heute die Zeit beherrscht, vorschwebten. Die
Einzelheitslehre vermag Saiten in der menschlichen Brust anzurühren, die
verlockend klingen und die, wie die Geschichte von vier Jahrhunderten
lehrt, wie Orpheus, selbst die Wahrheit des Wirklichen zu verzaubern und
zu berücken vermögen.
V. Individualistische Vorbilder
1
A.
Der M e n s c h i m N a t u r s t a n d e
Wir haben oben
2
die Vorstellung des rationalen Naturrechtes in der von
Hobbes konstruierten reinen Form kennengelernt, wo
1
Das Folgende größtenteils nach meinem Buche: Der Wahre Staat, 2
.
Aufl., Leipzig
1923, S. 13 ff. [4. Aufl., Jena 1938, S. 11 ff.].
2
Siehe oben S. 86 f.