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schaft geschieht, ist Geist von unserem Geiste, ist Leben von unse-
rem urinnersten Leben.
Das erste Ziel dieser Vorträge soll darum eine Kritik des Inner-
lichen unserer Zeit, des Zeitgeistes, in dem doppelten Sinne sein, der
dem Worte Kritik als einer Scheidekunst innewohnt: Erstens eine
Scheidung der verschiedenen Wesenheiten und Mächte, die in unserer
Zeit wirksam sind, und zwar sowohl im geschichtlichen (genetischen)
wie im begrifflich-einteilenden (systematischen) Sinne; sodann zwei-
tens eine Scheidung des Echten vom Unechten, des Hohen vom
Niedrigen, das heißt eine richtende Prüfung jener durch einteilende
Scheidung gewonnenen Wesenheiten. Sowohl die eine wie die an-
dere Scheideweise enthält notwendig zugleich etwas Aufbauendes,
da weder die genetische und einteilende, noch weniger aber die wert-
prüfende Sichtung ohne gleichzeitige Erkenntnis des Bestandhaften
und Wahren gelingen kann.
Bei der scheidenden Arbeit der ersten Art, der genetischen, gilt es,
eine solche geschichtliche Ansicht der Dinge zu erreichen, die sowohl
rückwärtsschauend erkennt, was in der gegenwärtigen Zeit in Wahr-
heit abstirbt, was in den Schlaf des Dornröschens, in den Stand des
Gleichsam-Nichtseienden / auf Jahrhunderte zurücktritt; wie auch
im vorwärtsschauenden Sinne erkennt, was von dem Neuen, das die
weltgeschichtliche Bühne betritt, aus den Lebenstiefen des Werdens
stammt, was als wahre geschichtliche Macht seine Flügel aus der
Puppenhülle entfaltet.
Mit einer solchen echt geschichtlichen Ansicht der Dinge würden
wir uns das rechte Bewußtsein der weltgeschichtlichen Wendezeit, in
der wir leben, erobern. Denn wir haben heute keine bloße Krise die-
ses oder jenes Landes, dieser oder jener politischen Parteien, dieses
oder jenes politischen Grundsatzes, dieser oder jener Staatsform, die-
ser oder jener Reformweise, überhaupt keine Teilkrise oder eine
Summe davon vor uns, sondern eine Krise der allgemeinen Denk-
weise, der Ideenrichtung, mit einem Worte, des ganzen Zeitgeistes!
Es ist einer der Grundgedanken dieser Vorträge (der erst später
bewiesen werden soll), daß wir es heute nicht bloß mit einer im
eigentlichen Sinne politisch-wirtschaftlichen Krise, sondern mit einer
vollständigen Umkehr im geschichtlichen Zeitalter zu tun haben.
Unser Umsturz gleicht auch nicht etwa der französischen Revolu-
tion; denn in dieser gelangte ein längst vollzogener geistiger Um-