Einleitung
In der Geschichte der Gesellschaftswissenschaften sind stets die
kurzen Zeitspannen des Umsturzes Stunden reichster Ernte. In ihnen
öffnet sich der Abgrund, wir blicken schaudernd in seine Tiefe und
erkennen, was verborgen war. Kräfte, die früher gebunden blieben,
werden nun frei, was geschlummert hatte und gleichsam nur im
Stande der Möglichkeit war, wird nun zur Wirklichkeit aufgerufen,
was wirklich war, muß abtreten aus dem Dasein. Aber damit ist es
im Plane des geschichtlichen Seins nicht eigentlich vernichtet, son-
dern nur in den Stand des Möglichen zurückversetzt. Ferne Zeitalter
werden wieder in ihrer Weise aus jetzt verbannten Möglichkeiten
schöpfen und sie zur Wirklichkeit erheben. Nur solche Zeiten des
Kommens und Gehens, des Erblickens der alten wie der neuen
Dinge, ihrer Oberfläche wie der Tiefe, aus der alles entsteigt, ver-
mögen unsere Augen für das innere Wesen gesellschaftlicher Vor-
gänge zu öffnen, während Zeiten des Stillstandes und des Gleichge-
wichtes unserem Blicke nur allzu leicht die Oberfläche als das allein
Wirkliche vortäuschen und ihm die dunkleren Mächte und Leiden
der Tiefe entziehen.
Ergeht es doch dem Menschen selbst nicht anders, der in diesen
wie in anderen Dingen das Ebenbild der Gesellschaft ist. Der gesunde
Mensch kennt die Grundlagen seiner sinnlichen und seelischen Kräfte
schlecht und hält für beständig, was nur auf allzu schwankendem
Grunde gebaut ist. In der Krankheit dagegen tritt der Mensch aus
seinem bisherigen Zustande hinaus, er erweitert den Kreis seiner
Empfindungen und Erlebnisse. Neue Gefühle, Schmerzen, Ahnun-
gen kommen hervor, neues Sinnen, neue Einsichten werden unser
Gewinn. Wir treten vielleicht endgültig aus dem alten Empfindungs-
kreise hinaus und kehren in die spätere Gesundheit wie ein weit ge-
wanderter und geläuterter Mensch zurück. So sind auch die Zeiten
des Umsturzes stets Zeiten der Veränderung des herrschenden gesell-
schaftlichen Empfindungskreises, Zeiten neuer Weisen des mensch-