[4]
11
von Ranke, wie alle anderen großen Geschichtsforscher, hat dagegen
jedem Zeitalter den ihm zugehörigen vollen Wert gegeben; er schließt
seine Weltgeschichte mit folgenden Worten: „In unaufhörlicher,
immer neue Schöpfungen hervorbringender Bewegung, und dennoch
in allen Grundzügen sich selber treu, gleichsam in jedem Moment
sein eigener Erbe, vollzieht sich so das welthistorische Geschick.“ Ein
solches aus seinem eigenen Wesen Sich-Selbst-Herausholen, das ist die
Geschichte; und es kommt uns darauf an, diesen wahren Anblick
von dem, was unser Zeitalter tut, zu gewinnen.
Bei dieser Auffassung wird auch die Gefahr vermieden, im Ge-
schichtlichen stecken zu bleiben. Wir müssen außer dem bloß ge-
schichtlichen Anblick der Dinge, den man nicht unschicklich das
zweite Gesicht genannt hat, auch das erste Gesicht selber erlangen,
nämlich die Erkenntnis des Wesenhaften jener Dinge, die im gegen-
wärtigen Zeitverlaufe im Spiele sind — wir müssen zur soziologi-
schen Zergliederung Vordringen, in der wir uns über die Frage klar
werden: welches innere Wesen kommt jenen Mächten zu, die heute
als ein Neues ihre Stellung und Gestalt gewinnen?
Auch hier muß ich ein Bekenntnis vorausschicken, das von der
herkömmlichen Weise abweicht und sich auf die Grundsätze des Ver-
fahrens bezieht: daß nämlich die Zergliederung der staatlichen, wirt-
schaftlichen und gesellschaftlichen Erscheinungen, weil sie zuletzt auf
eine Innerlichkeit stößt, viel mehr ist als ein bloß induktives, be-
schreibendes und logisch verarbeitendes Denken; sie muß, man darf
es ohne Pathos sagen, in die Tiefe des menschlichen Herzens hinab-
steigen als zu dem letzten Quell und Ursprung unseres Lebensgeset-
zes und muß von da aus den Gegenstand „Gesellschaft“ nachschaf-
fend erkennen, muß von da her den Anschluß finden an die Ver-
bundenheit des Einzelnen, gleichsam an sein Erwecktwerden durch
die überindividuelle Ganzheit. Dieses Hinabsteigen, diese Anknüp-
fung meint aber keine Psychologie noch eine bloß künstlerische Er-
kenntnis der Subjektivität unseres Lebens, sie meint auch keine
Weltanschauung, sondern eine objektive, eine s o z i a l e G e i -
s t e s l e h r e . Gesellschaftliche Wissenschaft ist Mit-Wissenschaft des
Innerlichen der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Eine solche Verfahrensweise gründet sich noch auf andere Fähig-
keiten als nur auf das Logische des Denkens oder auf Beobachtung
und Zergliederung des Handgreiflichen, womit wohl die Naturwis-