12
[4/5J
senschaft, aber nicht die gesellschaftliche Wissenschaft auskommen
kann. Mit Feststellungen wie: „Bei steigender Temperatur steigt die
Quecksilbersäule“, „zum Schmelzen verbraucht das Eis x Kalorien
Wärme“, das heißt mit Feststellung der äußeren Abfolge von Er-
scheinungen und quantitativen Indices ist es in der Ge- / sellschafts-
wissenschaft nicht getan. Kläglich wäre es, wenn sie sich nur auf
solches ä u ß e r e s Beobachten und verarbeitendes Denken be-
schränkte, das für sie vielmehr nur erste Vorbereitung ist; sie muß,
das wiederholen wir, mit tiefer Empfindung der inneren Wesenheit
der gesellschaftlichen Vorgänge inne werden.
Hohe Anforderungen sind es darum, die wir an die gesellschafts-
wissenschaftliche Scheidekunst und an die Beurteilung unseres Zeit-
alters stellen müssen. Das bedeutet für unsere Wissenschaft kein Ver-
sinken in Subjektivität; wir bleiben im Stande vollkommener Wis-
senschaftlichkeit, da jene Wirklichkeiten und die Wahrheit unseres
Innern ebenso unumstößlich da sind wie die äußeren Gegenstände
der Naturwissenschaft.
So viel über das Verfahren.
Die Einteilung des Gesamtstoffes unserer Untersuchung ist leider
bestimmt durch den völligen Mangel an gesellschaftswissenschaft-
licher Bildung in unserer Zeit. Jeder, der heute grundsätzlich gesell-
schaftswissenschaftliche Fragen erörtert, stößt auf das Hindernis,
keine Grundvorstellungen von dem Wesen der Sache, keine gesell-
schaftswissenschaftlichen Vor- und Grundbegriffe bei Zuhörer und
Leser voraussetzen zu können. Die herkömmliche soziologische Bil-
dung bedeutet vielmehr eine Verbildung, da sie im Banne primitiver
Entwicklungsvorstellung auf „völkerkundlicher Grundlage“ ist oder
sich auf wirtschaftliche und geschichtliche Kenntisse beschränkt; über
das Wesen der Dinge und Probleme weiß man eigentlich gar nichts,
allein schon deswegen, weil auch unsere Schulwissenschaft die Fragen
falsch stellt und am Grundsätzlichen scheu vorübergeht. Deshalb
muß ich eine soziologische Voruntersuchung vorausschicken und mei-
nen Stoff gliedern in: (1) einen vorbereitenden Teil, der die gesell-
schaftswissenschaftlichen Vorkenntnisse entwickelt und zugleich ein
kleiner Abriß der Gesellschaftslehre sein soll; (2) eine Kritik des Zeit-
geistes; (3) einen aufbauenden, ausblickenden Teil.
Schließlich möchte ich alle meine Hörer bitten, in diesen gewalt-
tätigen, aufgeregten Tagen eine Mahnung von mir entgegenzuneh-