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schwung, eine längst herrschende Idee, der Individualismus, zum

politischen Siege. Unsere Revolution und Zeitenwende dagegen be-

deutet, daß eine alte Ideenrichtung, die an der Macht war — der In-

dividualismus — verlassen wird, abstirbt und von innen her eine

neue Denkweise anhebt, ein neuer, anderer Weg des Lebens gesucht

wird. Aber noch kein ausgereifter Gedanke ist es, der heute seine

Gestalt gewinnen will; sondern eine neue Idee will sich erst gebären,

will sich selber erst gestalten. Daher darf man (später werden wir es

begründen) unsere heutige Zeitenwende, wenn auch in umgekehrter

Richtung, mit Renaissance und Humanismus vergleichen. Auch da-

mals wurde eine erste Abkehr von einer alten Denk- und Ideenrich-

tung gesucht, eine Abkehr von dem christlichen Mittelalter, von der

Philosophie und Lebensauffassung der Scholastik, von den ständisch-

zünftigen Bindungen und eine Hinwendung zum Individualismus

auf der Grundlage der klassischen Bildung; die heutige Krise ist die

G e g e n r e n a i s s a n c e , die auf eine Abwendung vom Indivi-

dualismus hinzielt, auf eine Umwendung des Weltgeistes, wenn diese

Hegelische Bezeichnung erlaubt ist.

Was wir bei dieser Betrachtung festhalten müssen, ist, daß die

Geschichte nicht als eine im großen und ganzen geradlinige Entwick-

lung nach aufwärts aufzufassen sei, wie uns die Darwinisten, Moni-

sten, Marxisten und andere verwandte Richtungen glauben machen

wollen. Mit diesem Gedanken, den man uns von Kindheit an aufge-

drängt hat, müssen wir gründlich brechen lernen. Wir müssen die

Geschichte stets als ein Absterbendes, Entwerdendes und als ein

Werdendes, sich Erneuerndes zugleich betrachten; dabei aber nicht

als eine Entwicklung geradeaus ins Unendliche und damit in das

Nichts, sondern als ein wechselvolles Ringen um den höchsten Inhalt

der menschlichen Lebensformen. Je ein Werden für einen Tod, je

eine Wahrheit für einen Irrtum, je eine neue Gestalt für einen ver-

neinten Gehalt. Es wäre ein Fehler, wenn wir uns vorstellten, die

Zeiten der Renaissance, der Auf- / klärung, des Kapitalismus seien

solche, in der die Geschichte endgültige, absolute Schritte nach vor-

lige Genossenschaftlichkeit ein (a) mit wirtschaftlicher Gleich-

(b) mit politischer Herrschaftslosigkeit (da jede Zwangsord-

Zeitalter insgesamt als minderwertig verurteilt, sondern im selben

Atemzuge auch das soeben vollkommenste Zeitalter an der Zukunft,

die noch unendlich viel vollkommener sein wird, entwertet. Leopold