200
[139/140]
idee in den Mittelpunkt der Religion stellte, ein Proletarier, hat
nicht fast seine ganze Gemeinde aus Adeligen bestanden? „Geburt
ist Leiden, Alter ist Leiden, Tod ist Leiden“, allein schon diese
Worte Buddhas hätten Max Weber lehren können, daß der reli-
giöse Erlösungsgedanke mit der „Privilegierung“ und „ökonomi-
schen Lage“ einer Schicht innerlich nichts zu tun, sondern unendlich
tiefere Gründe hat. Die Fragen des Lebens reichen wahrlich über die
Einkommenslehre hinaus — dieser Satz ist es vornehmlich, den man
Max Webers „Religionssoziologie“ als einer u n g e h e u r e n
S a m m l u n g m i ß v e r s t a n d e n e n T a t s a c h e n s t o f f e s
entgegenhalten muß. Ein a-metaphysischer Mensch unterfing sich
darin, das größte metaphysische Gebiet der menschlichen Gesellschaft
und Geschichte zu behandeln.
Von einer „verstehenden Soziologie“ ist da wenig mehr zu fin-
den. Es ist eine seltene Verständnisarmut, die sich hier an ein ihr
unerschwingliches Grundgebiet des sozialen Lebens, die Religiosität,
heranwagt, es ist eine ätzende Sucht, zu zersetzen und zu zerstören,
die sich hier kundtut. Und was / bietet sie selber? — überall nur ein
atheistisches Aufklärertum plattester Art. Da gilt, was Faust zu
Mephisto sagt:
Was willst Du armer Teufel geben?
Ward eines Menschen Geist in seinem hohen Streben
Von Deinesgleichen je gefaßt?
1
Max Weber hat recht, es ist ein „Sein ohne Sollen“, ein Wert-
freies und Wertloses, das er uns hier zum besten gibt. Vor 20 Jahren
noch hätte Max Webers Atheismus, Skeptizismus, Materialismus,
Individualismus, Marxismus und was dieser Art mehr ist, sein
„groß’ Publikum“ gefunden. Heute ist seine Zeit vorbei, heute ist
seine Lehre t o t e W i s s e n s c h a f t , da in den grausigen Wirren
des Lebens der Mensch sich wieder auf seine letzten Grundlagen zu-
rückgeworfen sieht und dem uralten Worte nachsinnen lernt, daß
alles Irdische an den Himmel gebunden sei.
Max Weber war ein dämonisch-ruheloser Mann, der auf andere
persönlich zu wirken vermochte, dem es aber nicht beschieden war,
ein Lebenswerk zu hinterlassen, das dauern könnte.
1
Johann Wolfgang von Goethe: Faust, Erster Teil, Studierzimmer (2).