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jenem Gegensatze. Denn die Deutung, Auffassung oder Wesens-
erklärung alles Geistigen führt überall zuletzt und unentrinnbar
auf die im weitesten Sinne e m p i r i s t i s c h e (positivistische,
relativistische) oder auf die nichtempiristische, das ist im engeren
Sinne i d e a l i s t i s c h e (= metaphysische) Auffassung
1
.
Die individualistische und die empiristische Auffassung entspre-
chen einander; ebenso die universalistische und die nichtempiri-
stische. Den Nachweis dafür, daß erst auf dem Grunde der nicht-
empiristischen, der idealistischen Auffassung der geistigen Inhalte
des Gesellschaftslebens die universalistische Untersuchung in der
Soziologie einsetzen kann, während die empiristische Auffassung
der geistigen Inhalte von Kultur und Geschichte überall zur indi-
vidualistischen Betrachtung in der Soziologie führt, können wir an
dieser Stelle allerdings nicht erbringen
2
.
Nun ist die neuzeitliche Religionssoziologie wie in methodologi-
scher Hinsicht bekanntlich durchaus individualistisch, so in philoso-
phischer Hinsicht empiristisch eingestellt. Um die Auseinanderset-
zung zu erleichtern, gilt es, zuvor über ihre Lehren und Schulen
einen Überblick zu gewinnen.
I.
Die Erklärungsarten der Religion nach empiristischer Auffassung
3
Das Wort „empiristisch“ soll künftig im weitesten Sinne gebraucht
werden, so daß es alle Arten von Sensualismus, Relativismus, Positi-
vismus, Naturalismus und dergleichen mehr umfaßt. Daß „empiri-
stisch“ nicht mit „empirisch“ (auf Erfahrung beruhend) zusammen-
fällt, da auch der Idealismus den Anspruch macht, auf Erfahrung zu-
rückzugehen, braucht dem philosophisch Gebildeten nicht eigens
1
„idealistisch“ also zuletzt im ontologischen, objektiven Sinne, zum Beispiel
der platonisch-aristotelischen oder Hegelschen Ideenlehre, nicht im bloß erkennt-
nistheoretischen, nicht im subjektiven Sinne.
2
Vgl. mein Buch: Gesellschaftslehre, 3. Aufl., Leipzig 1930, S. 210 ft. (jetzt:
4. Aufl., Graz 1969, S. 253 ff. = Gesamtausgabe Othmar Spann, Bd 4); ferner
meinen Beitrag zur Festschrift für Paul Wilhelm Schmidt: Naturalistische und
idealistische Gesellschaftslehre, Mödling bei Wien 1928 (Verlag des „Anthropos“,
St. Gabriel, S. 227 ff., jetzt abgedruckt in: Kämpfende Wissenschaft, 2. Aufl., Graz
1969, S. 139 ff. (= Gesamtausgabe Othmar Spann, Bd 7).
3
Aus dem ungeheuren Schrifttum zu diesem und zu dem folgenden Abschnitt
hebe ich nur hervor: P a u l W i l h e l m S c h m i d t : Der Ursprung der Gottes-
idee, Teil 1: Historisch kritischer Teil, Münster 1912 (2. Aufl., Münster 1926), in