265
wie einen geschichtlichen Zusammenhang der religiösen Entwicklung
aller indogermanischen Völker voraus. Dabei war das Bestreben
vorhanden, die indogermanische Mythenbildung an die Natur-
erscheinungen und den Sternenhimmel anzuknüpfen (meteorolo-
gische Richtung).
„Die Hoffnungen und Verheißungen der etymologischen Schule“, sagt Sam
Wide
1
, „haben sich nicht erfüllt, und hierzulande hat diese mythologische Rich-
tung kaum einen einzigen namhaften Vertreter. Schon die verschiedenen Resul-
tate . .. haben kein Vertrauen zu ihrer Methode ergeben können: der eine sucht
im Regen, der andere im Sturm, der dritte im Morgen- und Abendrot die Quelle
der indogermanischen Mythenbildung; dieselbe göttliche Gestalt wurde als Erde,
Luft, Wolke, Mond gedeutet. Ein Grundfehler dieser Richtung lag darin, daß
sie gänzlich unhistorisch war . . .“
Trotz der Berechtigung dieser Kritik wird man ein Körnchen
Wahrheit in der meteorologischen Schule anerkennen müssen. Man
denke an die uralte A s t r o l o g i e , welche das irdische Geschick
von den der Geburt vorstehenden Gestirngottheiten abhängig
macht, und an die philosophische Lehre des A r i s t o t e l e s von
den Gestirngottheiten. — Zur Erklärung der Religionen kann die
meteorologische Schule allerdings dennoch nicht dienen. Dies zeigt
sich nicht nur in der Willkür, die sich bei der Deutung der sach-
lichen Zusammenhänge bisher immer einstellte (wie sie die oben
angeführte Äußerung Sam Wides richtig hervorhebt), es liegt viel-
mehr noch an einem grundsätzlichen Mangel des Standpunktes. Die
meteorologische Schule vergißt, daß die Deutung der Vorgänge am
Himmel als göttlicher (statt als natürlich-physikalischer) n o t -
w e n d i g R e l i g i o s i t ä t s c h o n v o r a u s s e t z t ! Das Be-
wußtsein des Göttlichen, die Erklärung der Religiosität, muß daher
vor der Erklärung dieses Bewußtseins, nämlich vor seiner An-
wendung auf den Sternenhimmel stehen! Die Deutung des Sternen-
himmels kann nur dann religiös sein, wenn die Religiosität, wenn
der Urgrund des Glaubens schon da ist. Der G l a u b e w i r d
i m H e r z e n g e t r a g e n , e r w i r d n i c h t v o m S t e r -
n e n h i m m e l a b g e l e s e n . Ist aber der Glaube einmal da,
dann freilich kann er auch in den Vorgängen am Sternenhimmel
einen Gegenstand finden.
1
Sam Wide und Martin Paul Nilsson: Einleitung in die Altertumswissenschaft,
herausgegeben von Alfred Gercke und Eduard Norden, Bd 2, Teil 4, Abschnitt:
Griechische Religion, 3. Aufl., Leipzig 1922, S. 270.