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inneren Drang erregt, nämlich von dem Bedürfnis, für jede Erschei-
nung ... eine Ursache ... zu erspähen.“ —
Wir kommen auf diese Auffassung noch zurück. Gleichwohl er-
klären wir schon jetzt, daß „Vermenschlichung“ und „Ursachen-
erklärung“ nie und nimmer das ergibt, was erklärt werden soll: das
Gotteserlebnis, die Religiosität! „Vermenschlichung“ ergäbe nur
vergrößerte Menschen, nur Sinnliches, niemals das Übersinnliche.
Verwandt mit dem Anthropomorphismus ist die schon im Altertum versuchte
Erklärung der Religion aus der Furcht. Die Furcht vor Blitz und Naturgewalt
haben die Götter erfunden
1
. — Auch in diesem Falle bliebe zu erklären, wieso
die Furcht über das Sinnliche zum Übersinnlichen hinausschreite.
Frühere naturalistische Soziologen, so Auguste Comte und John Lubbock
2
,
hielten den (aus jener „primitiven Ursächlichkeit“ folgenden) F e t i s c h i s -
m u s , das ist die Verehrung lebloser Gegenstände, für die tiefste Stufe und die
einfachste Erscheinungsform der Religion. Doch ist diese Ansicht längst auf-
gegeben, seit man weiß, daß niemals die Gegenstände an sich göttlich verehrt,
sondern stets nur als Wohnung höherer Mächte (man denke an Amulette) oder
als ihre Vertreter und Zeichen betrachtet wurden.
2.
Die R e l i g i o n w u r z e l t i n d e r D e u t u n g d e r
T r a u m e r f a h r u n g . Im Traume und in traumähnlichen Zu-
ständen (Verzückung, Gesicht, Hypnose) macht der ursprüngliche
Mensch die Erfahrung, daß er seinen Ort verläßt, zu entfernten
Freunden wandert, mit ihnen spricht usw. Dadurch entsteht nach
empiristischer Meinung die Annahme einer selbständigen, vom Kör-
per lostrennbaren Seele, die dann Unterlage für weitere religiöse
Vorstellungen werde, indem man die Traumerfahrung und Ge-
sichte durch falsche Schlüsse auf den Tod überträgt. Insbesondere
entstehe auf diese Weise die allen Naturvölkern eigene Überzeu-
gung von der U n s t e r b l i c h k e i t und die Ahnenverehrung,
der sogenannte „ M a n i s m u s “ (Theorie der Ahnenverehrung
von Herbert Spencer und anderen). —Wird die ganze Natur be-
1
Titus Lucretius Carus: De rerum natura, libri VI, liber 6, 50; viele Auf-
lagen und Übersetzungen, zum Beispiel: Von der Natur der Dinge, mit dem
lateinischen Text nach der Wakefield’s Ausgabe, 2 Bde, Leipzig 1821, Bd 2,
6. Buch, 50, S. 233.
2
John Lubbock: The Origin of Civilisation and the Primitive Condition of
Man, London 1870, deutsche Ausgabe: Die Entstehung der Zivilisation und der
Urzustand des Menschengeschlechtes, erläutert durch das innere und äußere Leben
der Wilden, übersetzt von Adolph Passow, 1. Aufl., Jena 1875, 6. Aufl., Jena
1902.