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266

B. Die e t h n o l o g i s c h e S c h u l e o d e r

v e r g l e i c h e n d e R e 1 i g i o n s f o r s c h u n g

Als die Grundgedanken dieser heute herrschenden Richtung dür-

fen die folgenden gelten: Erstens, daß alle Völker einstmals dieselbe

Kulturstufe eingenommen haben wie die heutigen sogenannten

Naturvölker; zweitens, daß sich in den unteren Schichten der Kul-

turvölker auch heute noch viele Überbleibsel primitiver Religions-

vorstellungen und Gebräuche erhalten haben. Der erste Gedanke

weist auf die vergleichende Völkerkunde (Ethnologie), der zweite

auf die Erforschung der Volksgebräuche der unteren Schichten, na-

mentlich der Bauern aller Kulturvölker hin, die sogenannte „folk-

lore“ oder Volkskunde. Ihr Hauptergebnis ist, daß die Götter des

europäischen Volksglaubens „Bauerngötter“ sind, das heißt Vege-

tationsgeister, Ackerbaugottheiten und chthonische Gottheiten. —

Drittens nimmt diese Schule eine für alle Völker der Erde gemein-

same Summe von Vorstellungen an, die in der Ähnlichkeit der seeli-

schen Anlagen begründet ist (der „Elementargedanke“ oder „Völ-

kergedanke“ Bastians) und aus der sich die verschiedenartigsten Ge-

bilde herausdifferenziert haben. (Daher umfaßt dieses Verfahren

nicht nur die Religion, sondern alles soziale Leben überhaupt, wes-

halb diese Richtung in England „Anthropology“ heißt.) — Wichtig

ist die Feststellung, daß das Verfahren dieser Schule nicht eigentlich

vergleichend-geschichtlich ist, s o n d e r n v e r g l e i c h e n d -

p s y c h o l o g i s c h a u f v ö l k e r k u n d l i c h e r u n d v o l k s -

k u n d l i c h e r S t o f f g r u n d l a g e .

Als Hauptvertreter dieser Richtung kann in D e u t s c h l a n d

Wilhelm Mannhardt betrachtet werden, der ursprünglich von der

mythologischen Schule ausging, dann aber sich der Untersuchung

der Gebräuche und Festsitten der europäischen Bauern zuwandte

1

.

In E n g l a n d ist in diesem Zusammenhange vor allem James Ge-

1

Wilhelm Mannhardt: Wald- und Feldkulte, 2 Teile, Berlin 1875—77, Teil 2:

Antike Wald- und Feldkulte aus der nordeuropäischen Überlieferung erläutert,

Berlin 1877, 2. Aufl., besorgt von Wilhelm Heuschkel, Berlin 1905; Mytholo-

gische Forschungen, nach dem Tode Mannhardts herausgegeben von Hermann

Patzig, Straßburg 1894. — Von anderen deutschen Verfassern dieser Art möchte

ich nur Albrecht Dieterich mit seinem Buch: Mutter Erde, Ein Versuch über

Volksreligion, 1. Aufl., Leipzig 1905, hervorheben.