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B. Die e t h n o l o g i s c h e S c h u l e o d e r
v e r g l e i c h e n d e R e 1 i g i o n s f o r s c h u n g
Als die Grundgedanken dieser heute herrschenden Richtung dür-
fen die folgenden gelten: Erstens, daß alle Völker einstmals dieselbe
Kulturstufe eingenommen haben wie die heutigen sogenannten
Naturvölker; zweitens, daß sich in den unteren Schichten der Kul-
turvölker auch heute noch viele Überbleibsel primitiver Religions-
vorstellungen und Gebräuche erhalten haben. Der erste Gedanke
weist auf die vergleichende Völkerkunde (Ethnologie), der zweite
auf die Erforschung der Volksgebräuche der unteren Schichten, na-
mentlich der Bauern aller Kulturvölker hin, die sogenannte „folk-
lore“ oder Volkskunde. Ihr Hauptergebnis ist, daß die Götter des
europäischen Volksglaubens „Bauerngötter“ sind, das heißt Vege-
tationsgeister, Ackerbaugottheiten und chthonische Gottheiten. —
Drittens nimmt diese Schule eine für alle Völker der Erde gemein-
same Summe von Vorstellungen an, die in der Ähnlichkeit der seeli-
schen Anlagen begründet ist (der „Elementargedanke“ oder „Völ-
kergedanke“ Bastians) und aus der sich die verschiedenartigsten Ge-
bilde herausdifferenziert haben. (Daher umfaßt dieses Verfahren
nicht nur die Religion, sondern alles soziale Leben überhaupt, wes-
halb diese Richtung in England „Anthropology“ heißt.) — Wichtig
ist die Feststellung, daß das Verfahren dieser Schule nicht eigentlich
vergleichend-geschichtlich ist, s o n d e r n v e r g l e i c h e n d -
p s y c h o l o g i s c h a u f v ö l k e r k u n d l i c h e r u n d v o l k s -
k u n d l i c h e r S t o f f g r u n d l a g e .
Als Hauptvertreter dieser Richtung kann in D e u t s c h l a n d
Wilhelm Mannhardt betrachtet werden, der ursprünglich von der
mythologischen Schule ausging, dann aber sich der Untersuchung
der Gebräuche und Festsitten der europäischen Bauern zuwandte
1
.
In E n g l a n d ist in diesem Zusammenhange vor allem James Ge-
1
Wilhelm Mannhardt: Wald- und Feldkulte, 2 Teile, Berlin 1875—77, Teil 2:
Antike Wald- und Feldkulte aus der nordeuropäischen Überlieferung erläutert,
Berlin 1877, 2. Aufl., besorgt von Wilhelm Heuschkel, Berlin 1905; Mytholo-
gische Forschungen, nach dem Tode Mannhardts herausgegeben von Hermann
Patzig, Straßburg 1894. — Von anderen deutschen Verfassern dieser Art möchte
ich nur Albrecht Dieterich mit seinem Buch: Mutter Erde, Ein Versuch über
Volksreligion, 1. Aufl., Leipzig 1905, hervorheben.