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Es ist u n r i c h t i g , i m G l a u b e n t u m d e r N a t u r -
v ö l k e r n u r d a s E n t a r t e t e u n d V e r b i l d e t e z u
s e h e n , dem tieferen religiösen Wurzelgrund aber, der im Verbor-
genen überall zu finden ist, nicht nachzuspüren. Wenn man die
Schilderungen des Glaubens der Naturvölker in den heutigen reli-
gionssoziologischen Werken liest, muß man sich zuerst vor Augen
halten, daß viele Reisende und Beobachter aus Mangel an Reli-
giosität gar nicht in der Lage sind, die geheimen religiösen und sub-
religiösen (zum Beispiel hellsichtigen) Hintergründe zu verstehen,
so gut sie es sonst meinten
1
. Wie man nicht Sittengeschichte schreibt
auf dem Grunde des Verbrechens, sondern auf dem Grunde dessen,
was jeweils als sittlich erlebt und beurteilt wurde, so sollte man nicht
Religionsgeschichte schreiben auf Grund von Äußerlichkeiten, Ent-
artungen und Ermattungen. Selbst die gesunkensten Völker sind
nicht ganz von Gott verlassen. Niemals dürfen die abergläubischen
Gebräuche und Äußerlichkeiten des Opferdienstes, niemals die
Phantastik und Bildnerei des Mythos für den Ernst der Religion
genommen werden — was dahinter steht, gilt es zu deuten. Das ist
allerdings kein Geschäft für den Durchschnittsmenschen.
Vor allem aber — und das ist für viele Fragen entscheidend —
darf bei Beurteilung der Religionen der Naturvölker und der poly-
theistischen Völker der arteigene Wahrheitsgedanke jener Dinge
nicht übersehen werden, die man heute unter den Namen Hyp-
nose, Somnambulismus, Vorschau, zweites Gesicht, Hellsehen,
Trancezustände und dergleichen mehr zusammenfaßt und mit Un-
recht belächelt. Erscheinungen aus der Nachtseite des Seins, Ahnen-
verehrung, Schamanenleistungen usw. sind daher keineswegs leere
Nichtigkeit, Unwesen, Schwindel — wer das meint, wer j e n e n
v e r b o r g e n e n E r s c h e i n u n g e n d e s m e n s c h l i c h e n
S e e l e n l e b e n s k e i n e n W a h r h e i t s g e h a l t z u g e -
s t e h t , w e r s i e n i c h t z u w ü r d i g e n v e r m a g , k a n n
i n d e r R e l i g i o n s g e s c h i c h t e n i e a u f G r u n d k o m -
m e n.
Hier ist nach meiner Überzeugung die wichtigste Wurzel-heidni-
scher und naturhafter Religion. Das Entscheidende dabei ist und
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Ein grelles Beispiel dafür ist Max Webers religionssoziologische Begriffs-
bestimmung des Priesters, oben S. 273 ff.