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VI. Folgerungen für die Geschichte der Religiosität

Vom empiristischen Standpunkte aus lehrt die ethnologische

Schule: Das Primitive ist das Ältere. Dieser darwinistisch-evolutio-

nistische Grundsatz ist verfehlt und darum auch das ganze Bild der

Religionsgeschichte, das er ergibt — das aber schon als eine Ge-

schichte der Religionen ohne Religiosität einen Widerspruch in sich

selbst birgt, wie sich oben zeigte. Das heißt, Blinde von der Farbe

reden lassen.

Die Frage des Ursprunges der Religion und damit im übertrage-

nen Sinne der Geschichte der Religionen — ist zuerst keine ge-

schichtliche, sondern eine systematische; wie d e n n j e d e G e -

s c h i c h t e i m S y s t e m a t i s c h e n w u r z e l t , dadurch

nämlich, daß sie erst auf Grund der Erkenntnis dessen, was wesent-

lich ist, was im wesentlichen das Bestimmend-Inhaltliche sei, also

auf Grund einer Wesenseinsicht oder Theorie Geschichte werden

kann. Das naturwissenschaftliche Verfahren drängte dagegen —

gerade in der Religionssoziologie — zur Beschreibung des Äußer-

lichen. Wer nicht weiß, was Staat und König ist, kann auch keine

Geschichte der Staaten und ihrer Könige schreiben. „Staat“ ist aber

ein systematischer Begriff einer gesellschaftlichen Ganzheit, das heißt

jener Ganzheit, deren handgreifliche Geschichte geschrieben werden

soll, König ein Organ des Staates.

Eine Religionsgeschichte vom nichtempiristischen Standpunkte

aus ist noch nicht geschrieben. Der einzige große Versuch, welcher

vorliegt — Augustinus gab nur einen Rahmen, fast nur Andeutun-

gen —, ist jener Schellings in seiner „Philosophie der Mythologie

und Offenbarung“. Ihr Grundgedanke: Das I n n e r s t e d e r

G e s c h i c h t e i s t R e l i g i o n s g e s c h i c h t e vermag von

den Modernen nicht gewürdigt zu werden — wie es scheint auch

noch nicht von den modernen katholischen und protestantischen

Theologen, die sich von der naturwissenschaftlichen Art der indivi-

dualistischen Religionssoziologie blenden lassen. Eine rechte Ge-

schichte der Religionen müßte zuerst Geschichte der Religiosität

sein und die letzte innere Einheit aller Religionen festhalten. Es

versteht sich, daß durch diese innere Einheit die Unterschiede in

ihrem Wahrheits- und Offenbarungsgehalte nicht verneint werden.