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religiosität nicht ganz und gar ausgemerzt hat, sondern in gebän-
digter, gereinigter und bedingter Gestalt in sich aufnahm.
Ein wichtiges Zeugnis dieser Auffassung darf in der Ansicht je-
ner Kirchenväter erblickt werden, die mit dem Heidentum noch
zusammenlebten und es nicht nur vom Hörensagen kannten. Sie
waren darin einig, daß sie die übersinnlichen Mächte der Heiden
durchaus nicht völlig leugneten, sondern sie als niedere oder dunkle,
nämlich als Dämonen ansahen, die überdies auf rohe Weise ver-
ehrt wurden. So lesen wir bei Augustinus im vierten Buche des
Gottesstaates: daß die Götter höhere Geister, Dämonen seien, nicht
etwa, daß sie nie und in keinem Sinne beständen
1
. Im siebenten
Buche heißt es, es sei klar, daß die Götter der Römer „Dämonen
und höchst unreine Geister waren“
2
. „ .. . die guten Götter, die wir
unsererseits als heilige Enge l.. . bezeichnen“
3
. Solche Zeugnisse lie-
ßen sich leicht vermehren.
Wenn die Religionsgeschichte unseren Schlüssel handhabt, darf sie
nicht davon ausgehen, daß das Primitive am Anfang stehe. Dem
widerspricht Theorie wie richtig aufgefaßte Erfahrung gleich sehr.
Die niederen Religionen kennzeichnen sich ja gerade durch eine
naturalistische Entartung. Bekannt ist ferner, daß an der Schwelle
der geschichtlichen Religionen jene Zoroasters steht, die in keinem
Sinne primitiv ist, sich nicht an ein bestimmtes Volk, sondern an die
ganze Menschheit wendet und die höchsten Begriffe der Religiosität
wie des sittlichen Gebotes in hoher Ausbildung enthält.
1
Augustinus: Der Gottesstaat, IV, 1; vgl. auch IV, 9 ff., VIII, 14 ff. und
öfter; in der Ausgabe von Karl Völker, Jena 1923, IV. Buch, S. 48 ff., VIII. Buch,
S. 79 f. und öfter (= Herdflamme, Bd 4); ferner die ganze Auseinandersetzung
mit der heidnischen Theologie in den ersten zehn Büchern des „Gottesstaates“
und viele Bemerkungen in den späteren Büchern.
2
Augustinus: Der Gottesstaat, VII, 27, Ende; in der Ausgabe von Karl Völ-
ker, Jena 1923, VII. Buch, S. 77 f. (= Die Herdflamme, Bd 4).
3
Augustinus: Der Gottesstaat, VIII, 25; vgl. auch 26 f.; Ausgabe Karl Völker,
VIII. Buch, S. 79 f. — Im XIX. Buch, Kapitel 21, Schluß: „Könnte derjenige,
der durch die früheren Bücher dieses Werkes bis zu der Stelle gelangt ist, noch
zweifeln, daß die Römer bösen und unreinen Geistern gedient haben?...“;
Ausgabe Karl Völker, XIX. Buch, S. 177 (nicht wörtlich!).
19 Kleine Schriften