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beweist: d a ß d i e G e s e l l s c h a f t s l e h r e oder „ S o z i o -

l o g i e “ i n W a h r h e i t / nicht von Comte ins Leben gerufen

wurde, sondern so lange besteht, als es eine ausgebildete Philosophie

gibt.

In Platons „Staat“, in Aristoteles’ „Politik“ und „Ethik“

1

haben wir — von der

chinesischen und indischen Gesellschaftslehre abgesehen — die ersten zusammen-

fassenden Werke, die planmäßig ein eigenes Begriffsgebäude für die Lehre von

der menschlichen Gemeinschaft — denn sie umfassen die ganze Gemeinschaft, nicht

nur den Staat — aufzustellen suchen. Weniger ausgebildet finden wir die Ge-

sellschaftslehre im Mittelalter. Aber das hat seinen guten Grund. Denn das Mit-

telalter ist jene wunderbare Zeit, in der es k e i n e s o z i a l e F r a g e

im engsten Sinne des Wortes gab, in der daher das theoretische Nachdenken über

Gesellschaft, Wirtschaft, Staat und die übrigen Gebilde der Gemeinschaft vom

praktischen Leben her wenig Aufforderung empfing. Der Streit zwischen Kaiser

und Papst ging ja weit darüber hinaus, er lag nicht etwa an einer schlechten

Staats- oder Kirchenorganisation. Trotzdem liegt in den ethischen und politischen

Schriften bei Albertus Magnus und Thomas von Aquino eine Entwicklung der

Grundsätze der Gesellschaftslehre vor, wenn sie auch allerdings lange nicht

jene Ausbildung aufweist, die andere Teile der Philosophie bei den Scholastikern

erhielten. Welche hohe Ausbildung später die Gesellschaftslehre im deutschen

Idealismus, besonders bei F i c h t e , B a a d e r , H e g e l , A d a m M ü l l e r

2

,

G ö r r e s

3

, dem jüngeren F i c h t e , K r a u s e , S c h l e i e r m a c h e r und

anderen fand, ist bekannt und durch unsere frühere Darstellung angedeutet

4

.

Die Erkenntnis: daß die Gesellschaftslehre oder Soziologie nicht

erst auf Comte und seine Nachfolger zu warten brauchte, um ins

Leben zu treten, sondern daß sie seit uralten Zeiten einen wesent-

lichen Bestandteil jeder Philosophie, der idealistischen sowohl wie

der empiristischen, bilde, ist zur Beurteilung der gesamten neuzeit-

lichen Soziologie von größter Wichtigkeit. Sie ist dem Kenner der

Geschichte der Philosophie und der Geschichte der Staatswissen-

schaften eine Selbstverständlichkeit. Dennoch aber ist es bei dem

heutigen Mangel an lehrgeschichtlicher Bildung nötig, sie aufs nach-

1

Aristoteles: Politik, griechisch und deutsch, herausgegeben von Franz Suse-

mihl, Leipzig 1879; deutsch von Eugen Rolfes (= Philosophische Bibliothek, Bd 7),

3. Aufl., Leipzig 1922; Nikomachische Ethik, deutsch von Eugen Rolfes (= Philo-

sophische Bibliothek, Bd 5), 2. Aufl., Leipzig 1921.

2

Adam Müller: Die Elemente der Staatskunst, öffentliche Vorlesungen

1808—1809, herausgegeben von Jakob Baxa (= Die Herdflamme, Bd 1), Jena

1922. — Vgl. auch Jakob Baxa: Einführung in die romantische Staatswissenschaft

(= Ergänzungsbände zur Sammlung Herdflamme, Bd 4), 2. Aufl., Jena 1931;

Gesellschaftslehre, 3. Aufl., Leipzig 1930.

3

In: Jakob Baxa: Gesellschaft und Staat im Spiegel deutscher Romantik, Jena

1926.

4

Siehe oben S. 60 ff.