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drücklichste zu betonen. Denn die allgemeine Meinung von heute,

genauer gesagt, die Meinung der Empiristen, ist: es gebe erst seit

Comte eine Soziologie — nämlich die empiristische, und diese sei

die einzige: Platon oder Aristoteles, Thomas, Kant, Fichte, Hegel

hätten sich sehr gewundert, wenn man ihnen ein Buch der modernen

Soziologie, etwa Comte oder Spencer, als neue Wissenschaft vorge-

stellt hätte, da sie sich doch um dieselben Fragen ihr Leben lang

bemühten und sie systematisch behandelten. Aber gleichwohl hat

sich jene Mei- / nung, die Soziologie sei eine neue Wissenschaft, in

den Zeiten, in denen Materialismus und Empirismus aller Art und

Farbe fast unumschränkt herrschten, so fest eingewurzelt, daß auch

heute die akademische Wissenschaft noch davon erfüllt ist.

Wollte man aber einwenden, daß die neuzeitliche Soziologie eine

„Erfahrungswissenschaft“, die frühere Gesellschaftslehre dagegen

„spekulativ“ gewesen sei, so wäre das nicht völlig unrichtig, aber

doch nicht stichhältig. Denn die Gesellschaftslehre des Aristoteles

war, wie bekannt, durchaus auf Erfahrung ausgerichtet, was unter

anderem seine Sammlung von Verfassungen beweist. Andererseits

darf man mit Recht sagen, daß die Gesellschaftslehre Comtes und

seiner Schüler nicht minder spekulativ ist als jene Platons — nur in

unendlich naiverer Weise, weil sie sich nämlich ihrer spekulativen

Grundlagen — Materialismus, Empirismus, Individualismus —

nicht einmal bewußt ist. Das einzig Eigenartige an der Richtung

seit Comte ist der Versuch, die Gesellschaftslehre nach dem Ver-

fahren der kausalmechanischen Wissenschaften, vornehmlich der

mathematischen Physik, zu betreiben. Daß aber gerade dieser Ver-

such undurchführbar ist, liegt nach allem Gesagten klar zutage.

Dieser Grundfehler im Verfahren ist der Schlüssel für die Tat-

sache, daß die naturalistische Soziologie, die bis heute in zahllose

Richtungen zerspalten ist, nach hundertjährigem heißen Bemühen

e r g e b n i s l o s v e r l i e f

1

. E r g e b n i s l o s — d e n n d i e

g e s u c h t e n N a t u r g e s e t z e d e s g e s e l l s c h a f t l i c h e n

L e b e n s w a r e n n i c h t z u f i n d e n . Naturgesetze, kausal-

mechanische Gesetze der Gesellschaft, die Geist ist, kann es dem

Wesen der Sache nach nicht geben. Die naturalistische Soziologie

mußte daher mit ihrem Versuche, naturwissenschaftliche Verfahren

1

Vergleiche meinen Aufsatz Soziologie, in: Handwörterbuch der Staats-

wissenschaften, Bd 7, 4. Aufl., Jena 1926, S. 650 bis 667.