Table of Contents Table of Contents
Previous Page  5295 / 9133 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 5295 / 9133 Next Page
Page Background

[60/61]

57

6.

Zur Beurteilung der Hegelischen Geschichtsphilosophie

Im Laufe unserer Untersuchungen werden wir öfters auf Hegel

zu sprechen kommen. Darum möge hier eine kurze Zusammenfas-

sung, welche die wichtigsten Punkte hervorhebt, genügen.

(a)

Als ein Fehler, der aber von den Hegelischen Voraussetzungen

her nicht unheilbar erscheint, ist die f a l s c h e E i n h e i t d e r

G e s c h i c h t e , die er annimmt, zu betrachten. Hegel unterschei-

det zwar die Volksgeister, aber das genügt nicht. Seine Zeitalter ge-

hören jeweils nur einer einzigen Gesamtkultur der „Menschheit“ an,

während in Wahrheit stets mehrere Kulturen als die Hauptglieder

der Menschheitsgesellschaft einander gegenüber stehen und neben-

einander ihre Zeitstufen in verschiedener Weise durchlaufen. —

Ebenso steht es innerhalb der Kulturen und ihrer Untergliederun-

gen (Volkstümer, Staaten), wo wir die Religion, Wissenschaft, Kunst,

Sittlichkeit, Staatlichkeit, Wirtschaft jeweils auf v e r s c h i e d e -

n e n Zeitstufen sehen.

/

Demgemäß ist jeder Kultur- und Völkerkreis in verschiedener

Weise in Entfaltung begriffen; zu jeder Zeit stehen daher die ver-

schiedenen Kulturen auf verschiedenen Stufen. Man kann das den

Grundsatz der Ungleichzeitigkeit der Zeitstufen der Kulturen in

der Geschichte nennen; die verschiedenen Entfaltungsstufen der

Kulturen sind es, die jeweils in der Geschichte aufeinandertreffen

und sich befruchten

1

.

(b)

Unser wesentlichster Einwand bezieht sich auf die f a l s c h e

E i n d e u t i g k e i t d e s G e s c h i c h t s v e r l a u f e s bei Hegel

nach den dialektischen Schritten von Setzung, Gegensetzung und

Ineinssetzung. Der wirkliche Geschichtsverlauf gehorcht weder die-

sem bestimmten dialektischen Schema, noch einem anderen, das von

gleicher Eindeutigkeit wäre. Daß Vernunft in der Geschichte sei, hat

Hegel mit Recht behauptet, aber auch die Unvernunft, das Zerstö-

rende, das in ihr auftritt, muß erklärt werden. Wo bleiben bei dem

eindeutigen Gange der dialektischen Setzungsschritte Verfall und

Wiederherstellung, wo die Renaissancen, Reformationen, Verjün-

gungen aller Art? In Wahrheit ist der Geschichtsverlauf reicher als

Hegel vorsieht, das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit

1

Siehe unten S. 299 ff.