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6.
Zur Beurteilung der Hegelischen Geschichtsphilosophie
Im Laufe unserer Untersuchungen werden wir öfters auf Hegel
zu sprechen kommen. Darum möge hier eine kurze Zusammenfas-
sung, welche die wichtigsten Punkte hervorhebt, genügen.
(a)
Als ein Fehler, der aber von den Hegelischen Voraussetzungen
her nicht unheilbar erscheint, ist die f a l s c h e E i n h e i t d e r
G e s c h i c h t e , die er annimmt, zu betrachten. Hegel unterschei-
det zwar die Volksgeister, aber das genügt nicht. Seine Zeitalter ge-
hören jeweils nur einer einzigen Gesamtkultur der „Menschheit“ an,
während in Wahrheit stets mehrere Kulturen als die Hauptglieder
der Menschheitsgesellschaft einander gegenüber stehen und neben-
einander ihre Zeitstufen in verschiedener Weise durchlaufen. —
Ebenso steht es innerhalb der Kulturen und ihrer Untergliederun-
gen (Volkstümer, Staaten), wo wir die Religion, Wissenschaft, Kunst,
Sittlichkeit, Staatlichkeit, Wirtschaft jeweils auf v e r s c h i e d e -
n e n Zeitstufen sehen.
/
Demgemäß ist jeder Kultur- und Völkerkreis in verschiedener
Weise in Entfaltung begriffen; zu jeder Zeit stehen daher die ver-
schiedenen Kulturen auf verschiedenen Stufen. Man kann das den
Grundsatz der Ungleichzeitigkeit der Zeitstufen der Kulturen in
der Geschichte nennen; die verschiedenen Entfaltungsstufen der
Kulturen sind es, die jeweils in der Geschichte aufeinandertreffen
und sich befruchten
1
.
(b)
Unser wesentlichster Einwand bezieht sich auf die f a l s c h e
E i n d e u t i g k e i t d e s G e s c h i c h t s v e r l a u f e s bei Hegel
nach den dialektischen Schritten von Setzung, Gegensetzung und
Ineinssetzung. Der wirkliche Geschichtsverlauf gehorcht weder die-
sem bestimmten dialektischen Schema, noch einem anderen, das von
gleicher Eindeutigkeit wäre. Daß Vernunft in der Geschichte sei, hat
Hegel mit Recht behauptet, aber auch die Unvernunft, das Zerstö-
rende, das in ihr auftritt, muß erklärt werden. Wo bleiben bei dem
eindeutigen Gange der dialektischen Setzungsschritte Verfall und
Wiederherstellung, wo die Renaissancen, Reformationen, Verjün-
gungen aller Art? In Wahrheit ist der Geschichtsverlauf reicher als
Hegel vorsieht, das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit
1
Siehe unten S. 299 ff.