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schehen, wenn dieses oder jenes Ereignis anders ausgefallen wäre?
Wenn Karl der Große nicht die Sachsenkriege geführt hätte, wenn
Heinrich VI. nicht jung gestorben wäre, wenn Napoleon den rus-
sischen Feldzug unterlassen hätte, wenn Goethe nicht am Hofe
von Weimar geblieben, wenn Mozart alt geworden wäre? — darum
sind solche Fragen keineswegs müßig und des Geschichtsschreibers
unwürdig. Im Gegenteile, ebenso wenig wie der Schauspieldichter
denkbar ist, der sich nicht fragte, was geschähe, wenn sich sein
Held anders entschiede, ebensowenig ist der Nachschöpfer des
großen Weltschauspiels, der Geschichtsschreiber, möglich ohne diese
Frage, welche ihn in die Freiheit, das Schöpferische, den Sinnzu-
sammenhang des Weltgeschehens einführt wie keine andere.
Ist kraft der Freiheit Neues in der Geschichte, so muß sich doch
das Neue mit dem Alten zusammenreimen. Prinz Heinrich hat zwar
die Freiheit, ein Herrscher oder ein Säufer zu werden, aber er kann
nicht etwa ein Tonsetzer werden. Das ist die große Frage, was im
jeweils Vergangenen der Geschichte an Voraussetzungen steckt.
Wäre das Neue die bloße Willkür, dann wäre die Geschichte zer-
trümmert, denn sie wäre dann sinnlos. Bei aller Betonung der Frei-
heit ist darum jede Überschwänglichkeit ausgeschlossen. Das Neue
kann nicht wie aus der Pistole geschossen kommen (um einen
Ausdruck Hegels zu gebrauchen). Die gestalthafte, ganzheitliche
Anknüpfung an das Frühere ist unerläßlich. Das wird sich später,
wo wir Gebundenheit und Freiheit / in anderem Zusammenhange
betrachten werden, aufs Neue zeigen.
Die Freiheit ist die eigentliche Lebenslust der Geschichte. Wie
durch sie erst Irrtum, Fall, Entscheidung, Verantwortung in die
Geschichte kommen, so auch Sein und Sollen, Wirklichkeit und
Idee, Verdienst und Tragik, so endlich auch Überwindung und
Erneuerung, Glanz und Morgen.
Geschichte ist Geist. Geist kann aus dem Vergangenen als seinen
Bedingungen nicht eindeutig erklärt werden. Geist ist Freiheit.
„Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber
du weißt nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt“
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Johannes, Kapitel 3, Vers 8.