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der Mensch wirklich mit rein sinnlichen Empfindungen beginnen,
dann bliebe er ewig finster und blöde. Nie kann sich durch Zusam-
menstellung der sinnlichen Eindrücke eine Gestalt, ein Begriff, noch
irgendein Höheres als der Eindruck selbst ergeben; nie kann sich
aus dem Sinnlichen der Gedanke emporringen. Der Gedanke ist
logisch zuerst da. Der Gedanke, der grundsätzlich auf das Allge-
meine als Konkretallgemeines geht, muß sich im Stoffe des Ein-
maligen, das freilich zuerst nur das sinnlich Empfundene sein kann,
darstellen. Das Sinnliche und Einzelne ist gleichsam nur der Mutter-
schoß des Gedankens, der Gedanke gebraucht es als den Stoff seiner
Darstellung. Er waltet mit dem sinnlich Erfahrenen und Erlebten
als mit einem Schatze. Wie jede Ganzheit nur von oben herab ver-
standen werden kann, so kann auch das Denken selbst, der Begriff,
nur von oben herab verstanden werden.
Davon gibt auch die gesamte heutige Seelenlehre Zeugnis, soweit
sie sich irgend von der empiristischen Assoziationslehre / losge-
macht hat. In der „Denkpsychologie“, in der „Strukturpsychologie“,
in der „Typenpsychologie“, in der „Verhaltenspsychologie“, überall
ist in Wahrheit (unbewußt) bereits ein ganzheitlicher Zusammen-
hang, der zum Verständnisse der Erscheinungen herangezogen wird.
Er ist es, in welchem die sinnlichen Einzelempfindungen erst er-
scheinen können, erst Fuß fassen, erst ihren Stellenwert, ihre Be-
deutung empfangen oder, wie wir es am genauesten ausdrücken,
ihre Gliedhaftigkeit empfangen.
Jedoch haben wir diesen Gedankengang hier nicht weiter zu
verfolgen. Woran uns an dieser Stelle lag, war der neuerliche Nach-
weis, daß es nur einmalige und unwiederholbare Allgemeinheiten
sowie nur allgemeine, bestimmte Einzelwesen oder Individualitäten
gibt. Die Begriffe Allgemeinheit — unwiederholbare Besonderheit,
generell — individuell, nomothetisch — idiographisch, schließen
sich daher, wie gesagt, keineswegs aus, wie die herkömmliche Logik
will, sondern bedingen einander.
Ist das Allgemeine nichts als die höhere Stufe, so folgt daraus,
wie wir schon bemerkten, nicht, daß der Allgemeinbegriff „arm“
und „leer" ist, das heißt aber, daß er nicht durch „Absehung“ von
Merkmalen gewonnen wurde, daß in ihm nicht Merkmale „abge-
streift“, „weggelassen“ erscheinen, da angeblich immer weniger
Merkmale als den Dingen „gemeinsam“ übrigblieben, je weiter
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