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schichte ist nichts von größerer Bedeutung als die Tatsache, daß
alles, was in die Welt kommt, schon unvollkommen auf tritt, in
diesem Sinne also schon Mißgeburt ist. Im Umgliederungsgang der
Weltgeschichte tritt uns alles und jedes als Fehlausgliederung ent-
gegen. Daher ist es eine Urtatsache, die das geschichtliche Werden
überall bestimmt, daß das Heilsstreben dem Verfalle entgegentritt.
Was ist aber die sachliche Notwendigkeit, sich aus dem Untergang,
aus der Vernichtung durch Vervollkommnungs- und Erneuerungs-
bestrebungen, sowie durch Widerstand gegen deren Vereitelung
seitens der Unholde zu retten, anders denn E r l ö s u n g ? Erlösung
hier nicht als ein theologischer Begriff gedacht, sondern E r l ö s u n g
a l s S e i n s w e i s e i m U m g l i e d e r u n g s g a n g e erschei-
nend, be- / dingt durch die Tatsache, daß das Unvollkommene
wirklich ist und daß eine Vervollkommnung einsetzen muß, u m
das E n t s t a n d e n e z u e r h a l t e n , z u e r r e t t e n ; daß
dann abermals ein eigener Widerstand gegen die Anfechtungen
entwickelt werden muß, die alle Vervollkommnung ja zu erleiden
hat durch Irrtum, Trug, Arglist, Verführung seitens des Gegen-
genies, des Unholdentums.
Gegengift erlöst uns von der leiblichen Krankheit, K r i t i k
erlöst uns vom Irrtum, Festigkeit schützt und erlöst vor Anfech-
tung. „Erlösung“ ist kein bloßes Wunschbild des Armen, sondern
eine Urtatsache und Weise der Geschichte. Da a l l e s i n d e r
G e s c h i c h t e b r ü c h i g i s t , k ö n n t e s i e n i c h t w e i -
t e r g e h e n , w e n n n i c h t u n a u f h ö r l i c h E r l ö s u n g
i n i h r w ä r e . Erlösung ist immer und überall in der Geschichte
wirksam; sie geht durch alles und jedes hindurch, was in irgend-
einem Maße (niemals völlig) der Vernichtung entrissen wird. D e n -
n o c h i s t E r l ö s u n g d e r F o r m n a c h k e i n e s e l b -
s t ä n d i g e g e s c h i c h t l i c h e K a t e g o r i e ; aber sie ist in
allen Wiedervervollkommnungen, Erneuerungen, Gegengründun-
gen, Gegenentfaltungen, Heilsgütern enthalten.
Jeder Blick, den wir auf die Geschichte tun, zeigt uns Tragik.
Wir können die Geschichte und unsere Stellung in ihr nicht ernst
genug nehmen. Das fürchterlichste Drama, das Künstlersinn je aus-
gedacht, das fürchterlichste Schicksal, das ein Mensch je erlebte, bleibt
weit zurück hinter der Tragik, die die Geschichte, und wären es
ihre schönsten Zeiten, in sich schließt. Darum die düsteren Töne in