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sich selbst erstickt. Umgekehrt auch: wieviele Gelegenheiten sind in
der Geschichte versäumt worden. Ja, die Geschichte ist nicht nur
eine Kette von Begebenheiten, sie ist a u c h e i n e u n u n t e r -
b r o c h e n e K e t t e v o n v e r s ä u m t e n G e l e g e n h e i -
t e n ! Wer die Geschichte nicht als eine ununterbrochene Kette von
versäumten Gelegenheiten sehen gelernt hat, weiß wenig von ihren
Möglichkeiten, ihren Tiefen, ihren Abgründen.
Aus all’ dem folgt, daß die V e r f a l l s g e f a h r n a c h
m ä c h t i g e r E n t f a l t u n g u n d l a n g e r L e b e n s z e i t
e i n e r g e s c h i c h t l i c h e n G a n z h e i t n i c h t m e h r
g r o ß i s t. In diesem Ergebnis haben wir unseres Ermessens einen
wichtigen Einblick in den Gang der Geschichte erlangt. Wie der
mächtige Geist weniger in Gefahr ist zu erstarren als der schwache,
so auch der große Staat, die hochentwickelte Kirche, der wohlaus-
gebildete Lehrbegriff weniger als die schwachen Verbände und gei-
stigen Gebilde. Darin liegt ja das Geheimnis des „Nicht-Sterben-
könnens“ der alten Poleis, von dem Burckhardt mit Isokrates
spricht
1
. Griechenland, Rom waren, so pflegt man zu sagen, lange
tot, ehe sie wirklich starben. Als Odoaker den letzten römischen
Kaiser vom Throne stieß, gab es längst kein römisches Kaisertum
mehr. Wie geht das zu? Der Gang der Umgliederung nach „Grün-
dung und Entfaltung“ erklärt es. Was kräftig ins Leben tritt und
sich lange vertiefend entfaltet, das bildet seine Grundlage und seine
anstaltlichen Lebensbahnen nach allen Seiten hin so sehr aus, daß
ihm auch innere Irrungen, böse Zufälle und Verbildungen nicht /
leicht etwas anhaben können. Die Staaten sind eben keine Orga-
nismen, die krank und alt werden, sondern geistige Ganzheiten,
deren Widerstandskraft um so größer wird, je gesünder die Grün-
dung war und je mehr die Vertiefung fortgeschritten ist. Darum
die ungeahnte Kraft großer Reiche, Staaten, Völker, Kulturen.
Als das griechische Reich in der tausendfach geschwächten und
verbildeten Gestalt des Byzantinischen Kaisertums endlich von den
Türken überwältigt wurde, hatte es noch geistige Schätze genug,
um durch eine Handvoll gelehrter Flüchtlinge, die sich nach Italien
1
Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, herausgegeben von Jacob
Oeri, 4 Bde, Berlin, Stuttgart 1898, 1900 und 1902, Bd 1, S. 90.