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Sie nahen, sie kommen,
Die Himmlischen alle,
Mit Göttern erfüllt sich
Die irdische Halle ..
Hier ist die Übereinstimmung aller Lebensgehalte, aller „Wert-
gebiete“ als unmittelbare innere Wahrheit ausgesprochen. Und sie
ist auch trotz aller neuzeitlichen Zweifelsucht, welche das Unvoll-
kommene der Geschichte für das reine Wesen der Sache nimmt,
schlechthin selbstverständlich.
Es wäre zu unergiebig, alle oben als angeblich wesensnotwendig behaup-
teten Spannungen einzeln zu besprechen. Vom Standpunkte der Ganzheitslehre
ergibt sich, wie angedeutet, die Widerlegung als eine grundsätzliche. Der so oft
behauptete „Gegensatz von Glaube und Wissen“ besteht dem Wesen der Sache
nach nicht. Wo war er in Altindien, wo in der Antike? Auch im Christentume
besteht er in Wahrheit entweder nur durch eine Überspannung der dogmati-
schen Gestaltung seitens der Religion oder durch ein naturalistisches, atheistisches
(wesenswidriges) Denken seitens der Wissenschaft. Entweder die Fehlentfaltung
in der Religion oder in der Wissenschaft ist der geschichtliche Grund solcher
Spannung, sie liegt nicht im Wesen der Sache. — Desgleichen hat die Spannung
Religion — Kunst (Bilderstürmerei) zur Grundlage: entweder eine falsche Über-
spannung des asketischen Elementes gegenüber der Kunst; oder eine natu-
ralistische Kunst, deren Sinnenfreudigkeit den höheren Anforderungen der
Religion an die Lebenserhaltung widerspricht. Wieder: Fehlentfaltung entweder
in der Religion oder in der Kunst.
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So steht es überall. Wo derartige Spannungen auftreten, muß entweder das
Eigenleben der Teilinhalte und Stufen der Gesellschaft gestört sein oder ihr
Gesamtgefüge vom Ganzen her eine Störung erfahren haben. Die Spannungen
zwischen den gesellschaftlichen Teilgebilden erscheinen nur dann unauflöslich,
wenn man auf dem Standpunkte steht, daß die Grundsätze:
„Freiheit des Einzelnen“ (Anarchismus, Individualismus in allen Formen);
„das größte Glück der größten Zahl“ (Positivsmus); „Fortschritt und Ver-
nunft“ (Rationalismus im Sinne der Aufklärung);
„methaphysisch-religiöse Haltung“ (Idealismus, aber in verschiedener religiöser
Abwandlung);
„Abstrahierung der Wertgrundsätze aus den Inhalten der jeweiligen geschicht-
lichen Kulturzustände“ („geschichtlicher Relativismus“, „Historismus“) — daß
alle diese und andere Grundsätze in der Geschichte unentscheidbar nebeneinander
stehen und niemand ihren Widerstreit schlichten könne, weil sie angeblich von
der „Weltanschauung“, von „subjektiven Voraussetzungen“ abhingen. In diesem
Falle allerdings wäre die „Wertgegensätzlichkeit“ dauernd und der unfrucht-
barste Relativismus wäre besiegelt. Gewiß kann man einwenden, daß, was dem
einen „Verfall“ sei, dem anderen „Aufstieg“ wäre, wie etwa Aufklärung und
Liberalismus das Mittelalter als Verfall bezeichneten, die Romantik umgekehrt
es als höchste Kulturblüte betrachtet. Aber wenn Meinungsverschiedenheiten
bestehen, ist damit schon bewiesen, daß es überhaupt keine richtige Meinung