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Von demselben Standpunkt aus sind auch jene Spannungen zu
beurteilen, welche in Wissenschaft, Kunst und Sinnlichkeit auftreten.
Auch sie sind vorranghaltig gegenüber allem Nachgeordneten (näm-
lich der Sittlichkeit und dem Handeln). Aber nicht eindringlich
genug kann man hervorheben, daß ein unbedingt Erstes von ihnen
nicht ausgehen kann. Denn sie sind selbst schon dem Religiösen
und Metaphysischen nachgeordnet. Daher die Wissenschaft grund-
sätzliche Änderungen nicht etwa / durch „neue Forschungen“, „Ent-
deckungen“ und glückliche Einfälle der Gelehrten erleidet. Keines-
wegs! Jede grundsätzliche Änderung in der Wissenschaft muß von
der geänderten religiösmetaphysischen Stellungnahme des forschen-
den Geistes ausgehen. Das heißt also: Das V o r g e o r d n e t e
g r u n d s ä t z l i c h e r B r ü c h e u n d S p a n n u n g e n d e r
W i s s e n s c h a f t l i e g t i m m e r i m M e t a p h y s i s c h e n ,
und zwar entweder im Metaphysisch-Philosophischen oder im Me-
taphysisch-Religiösen.
Diese Behauptung muß von der „Wissenssoziologie“ des Positivismus aller-
dings abgelehnt werden, die im Wissen auf rationalistische Weise ein Ursprüng-
liches sieht (sofern sie nicht in Umweltlehre versinkt); noch mehr vom „ge-
schichtlichen Materialismus“, der in der Wirtschaft das Ursprüngliche sieht. —
Aber die Geschichte spricht für uns. Sie lehrt, daß die Umwälzung der Wissen-
schaft (das heißt der Bruch in ihr und die Spannungen, die er auslöst) niemals
in Entdeckungen und Erkenntnissen an sich, sondern a u s s c h l i e ß l i c h i n
e i n e m n e u e n V e r f a h r e n besteht. Die Entstehung der neuzeitlichen
Wissenschaft seit Galileo Galilei vollzieht sich durch einen Bruch des Verfah-
rens, der wieder in einem metaphysischen Bruche seine Grundlage hat, nämlich
in der inneren Abwendung von der Aristotelisch-scholastischen Teleologie und
in der Hinwendung zu einem mechanisch-ursächlichen Verfahren, welches die
Erscheinungen nach reiner äußerer Abfolge und mittels mengenhafter Anzeiger
(quantitativer Indizes) erfaßt (also nicht mehr nach einem sinnvollen Zusam-
menhange, nicht mehr teleologisch). Erst auf Grund dieser neuen verfahren-
mäßigen Einstellung waren die Entdeckungen und Gesetze des Galilei möglich
und nur durch das neue Verfahren waren sie (selbst wenn sie auch auf altem
Wege gefunden worden waren) wirksam! Mit einem Worte: das n e u e E r -
k e n n t n i s i d e a 1 i s t e s , w e l c h e s d i e n e u e W i s s e n s c h a f t
f o r m t , nicht einzelne Funde, Entdeckungen, Erkenntnisse
1
. Der Koperni-
kanische Gedanke war bekanntlich nicht unerhört in der Geschichte der Astro-
nomie, aber eine die Wissenschaft umwälzende Bedeutung hatte er erst, das heißt
1
Vgl. darüber und über den Gegensatz von mechanisch-ursächlicher und tele-
ologisch-ganzheitlicher Erkenntnisweise überhaupt: meine Bücher: Kategorien-
lehre (1924), 2. Aufl., Jena 1939, S. 3 ff., 340 ff. und 380 ff. [3. Aufl., Graz 1969,
S. 11 ff., 308 ff. und 342 ff.]; Die Krisis in der Volkswirtschaftslehre, München
1930, S. 9 ff., 17 ff. und öfters; Gesellschaftslehre (1914), 3. Aufl., Leipzig 1930,
S. 546 ff., 4 ff. und 274 ff. [4. Aufl., Graz 1969, S. 12 ff., 333 ff. und 649 ff.].