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Staat dem Bereiche des veranstaltenden (organisierenden) Handelns angehört,

dieses aber den Vorrang vor allem Handeln hat; und überdies hat der Staat

als höchste Anstalt wieder im veranstaltenden Handeln den Vorrang

1

. Der Staat

organisiert geistiges Leben: (1) indem er sämtliche Stände, die Familie und sämt-

liche anderen Anstalten leitet, indem er also als Höchststand eine Oberaufsicht

über sie durchführt (wenigstens dem Wesen der Sache nach) und (2) indem er

selbständige Aufgaben erfüllt („arteigene Aufgaben“, z. B. die äußere und innere

Politik). Da nun alle Gezweiung auf die Dauer veranstaltet (organisiert) werden

muß, so nimmt der Staat alle geistigen Anregungen des gesamten gesellschaft-

lichen Lebens letzten Endes in sich auf und gestaltet, veranlaßt sie durch ent-

sprechende veranstaltende Handlungen. Wenn sich demnach im Staate einerseits

alle geistigen Bewegungen ausdrücken, vollenden, konkretisieren; wenn umge-

kehrt er selbst in ihnen wieder seine Quelle findet, dann gelten die Sätze: der

Staat ist Geschöpf und Schöpfer der Religion; ist Geschöpf und Schöpfer des

Wissens; er ist Geschöpf und Schöpfer der Kunst; er ist Geschöpf und Schöpfer

der Sittlichkeit; er ist endlich Führer aller anderen Stände und Anstalten (von

der Seite ihres Handelns, nicht von der Seite der geistigen Inhalte her genom-

men).

Wir haben diese Gedanken abermals entwickelt um zu erkennen: in welchem

Sinne die staatlichen Brüche und Spannungen etwas E r s t w e s e n t l i c h e s

sind. Jeder politische Aufruhr, Umsturz, Rückschlag, Wiederherstellung (Restau-

ration) ist mehr die Durchführung eines vorhergegangenen geistigen Bruches,

als ursprünglicher Staatsbruch.

Nichts ist bezeichnender für die staatlichen Brüche und Spannungen als die

allgemein anerkannte Tatsache, daß Revolutionen nur möglich sind durch das

Versagen der Staatsgewalt selbst. Was heißt das aber? Doch nichts anderes, als

daß der neue geistige Inhalt sich der Staatsträger / bereits bemächtigte, also der

V o r r a n g d e s G e i s t i g e n sich auch bei ihnen durchgesetzt hat. Daraus

folgt aber: daß Staatsbruch kein Vorgang ist, der aus dem Eigenleben des Staa-

tes folgt, sondern daß er aus den geistigen Bereichen her verstanden werden

muß. Das macht ja den grundsätzlichen Unterschied von den „ P a l a s t r e v o -

l u t i o n e n “ aus, die nicht viel mehr sind als ein Wechsel der Staatspersonen.

Denn in dem letzteren Falle handelt es sich um Vorgänge aus dem Eigenleben

des Staates; ähnlich, wenn im Parteileben alte Personen abtreten müssen, andere

kommen, ohne daß sie von anderen Ideen und geistigen Strömungen getragen

wären.

Lediglich solche Staatsbrüche, Spannungen also, die: (1) aus selbständiger

äußerer Politik folgen und dann Vergrößerung oder Verkleinerung des Staates

bedeuten; ferner solche Staatsbrüche, welche (2) aus den Vorgängen der inneren

Politik hervorgehen, als da sind Wechsel der Fürstenhäuser, Wechsel der Staats-

männer, Veranstalter, Minister, Palastrevolutionen — lediglich sie gehören dem

s t a a t l i c h e n E i g e n l e b e n selbst an. Daß z. B. die französische Revo-

lution ursprünglich kein Staatsbruch, sondern ein Kulturbruch ist, der den staat-

lichen Bruch zur Folge hatte, ist offenkundig. Dagegen bedeutet z. B. das staat-

liche Wirken Alexanders, Karls des Großen, Ottos I., Friedrichs II. eine Staats-

politik auf der Ebene des staatlichen Lebens selbst, daher die Brüche und Span-

nungen, die daraus entstanden, Erstwesentliches darsteilten und das Nachgeord-

1

Vgl. mein Buch: Gesellschaftslehre (1914), 3. Aufl., Leipzig 1930, S. 499 ff.

[4. Aufl., Graz 1969, S. 591 ff.].