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als völliger Bruch und als Spannung wirkte er erst, als er im Zusammenhange

mit dem neuen / Verfahren, mit dem neuen Erkenntnisideale auftrat. Es war

dasselbe Erkenntnisideal, das später im Begriffe der „Laplacischen Weltformel“

strengen, endgültigen Ausdruck fand

1

.

Jene ungeheure geschichtliche Spannung, welche mit dem Aufkommen der

naturwissenschaftlichen Denkweise zu Beginn der Neuzeit wirksam wird, ist

also nicht erstwesentlich im Wissen selbst entstanden, sondern hat ihre letzten

Gründe im philosophisch-religiösen Bereiche.

Erst im Rahmen des Eigenlebens der Wissenschaft können ursprüngliche

Brüche in ihr entstehen und daher ursprüngliche Spannungen von ihr ausgehen.

So ist z. B. klar, daß die einmal naturwissenschaftlich eingestellte Wissenschaft,

wenn sie nunmehr die Bazillen entdeckt, über die hygiensch richtige Lebens-

führung eigene Erkenntnisse bilden kann, die einen Bruch mit bisherigen An-

sichten bedeuten. Hier kann ein Bruch auch Folgerungen auf die Ansichten über

die Sinnlichkeit haben und daher sittliche Spannungen auslösen, die ursprünglich

vom Wissen selbst, nicht von dem ihm Vorgeordneten, dem Religiösen und

Philosophischen, ausgehen. — Solche ursprüngliche „ A n s t ö ß e “ können von

der Wissenschaft auch auf die Kunst, auch auf das Staatsleben, Familienleben,

auch auf die Technik usw. hinübergreifen.

Auf gleiche Weise verhält es sich mit der K u n s t . Für die grundsätzliche

Artung, den grundsätzlichen geistigen Lebensgehalt der Kunst ist ausschließ-

lich das vorgeordnete Metaphysisch-Religiöse und Metaphysisch-Philosophische

maßgebend. Das zeigt z. B. die Romantik. Ohne ihre neue metaphysische und

religiöse Einstellung wäre sie als Kunstbewegung nicht möglich und nicht zu

verstehen. Das zeigt aber ebenso auch das „junge Deutschland“, das der Roman-

tik folgte, das zeigen alle naturalistischen Schulen, die seither folgten, einschließ-

lich Dadaismus, Atonalismus usw. Alle diese nachromantischen Schulen sind näm-

lich nur möglich auf Grund ihrer materialistischen und atheistischen Einstellung,

also dadurch, daß das Vorgeordnete der Religion und Metaphysik eine vernei-

nende Gestalt annimmt — also nur s c h e i n b a r wegfällt, da ja der Mate-

rialismus irgendwie „auch“ eine Metaphysik ist.

Erst innerhalb der Nachgeordnetheit zum Religiösen und Metaphysischen gibt

es ein Eigenleben der Kunst, und erst innerhalb desselben können selbständige

Brüche mit daraus folgenden Spannungen auftreten. Daher sind fast durchaus

erst die Brüche und Spannungen i n n e r h a l b d e r K u n s t s t i l e von

solcher Art, daß sie als Eigenbewegungen der Kunst wirken und ihre Vorränge

zu den nachgeordneten Teilgebilden des gesellschaftlichen Lebens geltend machen

können, das heißt selbständige „Anstöße“, welche / Sittlichkeit, Staat, Technik

und Wirtschaft beeinflussen, zu geben vermögen. (Unter Kunststilen verstehen

wir dabei nicht nur Baustile, sondern auch Bildhauer-, Maler-, Dichter- und

Musikerschulen.) — Das schlimmste Zerrbild echten Kunststils, die M o d e ,

kann ein deutliches Zeugnis dafür ablegen, welchen Einfluß die Kunst selbst

noch in der Gestalt ihrer Erniedrigung ausübt.

Es würde zu weit führen, die Bedeutung des Vorranges der Spannungen durch

alle Teilinhalte und Stufen der Gesellschaft hindurch zu verfolgen. Nur die ent-

scheidende und weithin sichtbare Bedeutung aller Brüche und S p a n n u n g e n

i m S t a a t e muß noch berührt werden. Sie liegt zunächst daran, daß der

Vgl. oben S. 20 f. und öfters.