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setzen. Daraus ergeben sich zeitliche Ungleichläufigkeiten, zeitliche
Unstimmigkeiten oder, wie wir auch sagen können, zeitliche Miß-
entsprechungen der Brüche und Spannungen in den verschiedenen
Teilinhalten und Stufen der Gesellschaft.
Es ist eine öfters bemerkte, uns schon von der Lehre der Miß-
entsprechung her bekannte Erscheinung, daß die Brüche und Span-
nungen der einzelnen Kulturgebiete verschieden lange Entfaltungs-
zeiten haben und daher die Umwälzungen auf den verschiedenen
gesellschaftlichen Gebieten sich zu verschiedenen Zeiten vollziehen
(Ungleichläufigkeiten, Mißentsprechungen). Während Deutschland
in der nachstaufischen Zeit staatlich zusammenbrach, erreichten
Kunst, Philosophie, Mystik noch ihre höchste Entfaltung. In tief-
ster staatlicher Erniedrigung vor und während der Napoleonischen
Zeit blühte die deutsche Klassik und Romantik und stieg die Phi-
losophie des deutschen Idealismus zu einer nie gekannten Höhe
empor. Von Bach bis zu Mozart vollzog sich der größte Aufstieg
der Musik, während in der Philosophie Tiefstand, nämlich der
Empirismus, herrschte. Die Höhepunkte der Sprache und der Dicht-
kunst, der Wissenschaft und der Kunst treffen nicht zusammen. —
Weil sich die Brüche und Spannungen der vorgeordneten in den
nachgeordneten Gesellschaftsgebieten in verschieden langen Zeiten
durchsetzen, kommen Ungleichläufigkeiten von Blüte und Verfall
derselben zustande, ohne daß dadurch die geschichtliche Kategorie
der Entsprechung grundsätzlich außer Kraft gesetzt würde. — Zu
der Verschiedenheit der Zeit, welche zur Durch- / setzung der ver-
schiedenen Vorränge nötig ist, kommt außerdem die erwähnte
Verschiedenheit ihres Eigenlebens, das ebenfalls nicht in genau
gleichem Zeitmaße vorwärts geht, hinzu.
Wir werden auf die Ungleichläufigkeit noch in späterem Zusammenhange
stoßen
1
.
B.
Von den s t a a t l i c h e n S p a n n u n g e n
Wir haben früher die Spannungen eingeteilt in solche des inneren
Umsturzes (Revolution); des Krieges; der Pflanzung (Kolonisation);
1
Vgl. unten S. 305 ff. unter „Zeitstufen“; vgl. oben S. 172.