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2 . M e t a p h y s i k
Da die Kategorien Kantens wie Fichtes auf ein Übersinnliches hindeuten,
kann auch der kritische Standpunkt nicht um jede metaphysische Erörterung her-
umkommen. Kant bemühte sich zwar, sie wesentlich nur mittelbar und sogar
verneinend zu führen, hat aber in seinen Lehren von „Ding an sich“ und „Er-
scheinung“, vom Gottesbegriffe als Postulat der Sittlichkeit, von der intelligiblen
Freiheit, von den Ideen der reinen Vernunft, von den Gottesbeweisen, endlich in
der Religionsphilosophie (Begriff des R a d i k a l b ö s e n und anderes) unzwei-
felhaft Grundlinien einer Metaphysik gegeben. — Viel weiter ging von Anbe-
ginn Fichte. Indem er das „Ding an sich“ im Ich selber fand und damit die Unter-
scheidung von Erscheinung und Ansich aufhob, war die Entwicklung der Set-
zungsschritte des Geistes zugleich schon eine Entwicklung des Ansich der Welt-
Metaphysik! Darin lag die großartigste Wendung zum Idealismus, welche die
Geschichte kennt! Da das Wissen auf übersinnliche Wurzeln zurückweist (und
zwar unmittelbar, nicht vermittelt und bedingt wie bei Kant), wird auch die Er-
kenntnistheorie oder „Wissenschaftslehre“ zugleich zur Metaphysik. Darin, daß
Fichte Gott in der sittlichen Weltordnung nicht nur gefordert, sondern verbürgt
sah, lag dieselbe metaphysische Wendung. Endlich endet die Gnosologie (Phäno-
menologie) des Selbstbewußtseins bei Fichte mit dem Glauben. Der Glaube ge-
hört bei Fichte zum Bewußtsein in seiner Einheit und steht nicht abseits vom
Denken, wie bei Kant.
Von hier aus ist auch Fichtes hohe Meinung über die „Wissenschaftslehre“ zu
verstehen. Sie erschöpft ihm „alles menschliche Wissen“, „jeder möglichen /
Wissenschaft Objekt liegt in ihr“, sie ist in allen Kulturgebieten anwendbar. Durch
sie „wird das ganze Menschengeschlecht von dem blinden Zufalle erlöst und das
Schicksal wird für dasselbe vernichtet“
1
.
Insoferne aber für Kant wie Fichte das Geglaubte nicht rationalistisch gewußt
werden kann, sondern aus dem Wesen der Sache gefordert wird; insoferne
dann beide ihre Metaphysik von der Erkenntnislehre und Sittenlehre aus be-
gründen, sehen wir auch hier eine wesentliche Übereinstimmung, hinter der die
Unterschiede als bloß häusliche Zwistigkeiten zurücktreten. — Sokrates steht hier
Fichten näher als Kanten.
Bei Fichte ist noch eine besondere Wendung in der Metaphysik festzustellen.
Fichtes „Wissenschaftslehre“ ist nicht nur Metaphysik, sofern ihm das Ich das
Absolute ist; sie ist auch im Besonderen Seinslehre (Ontologie), da Sich-Setzen
und Sein dasselbe ist. Alle Wirklichkeit ist Tätigkeit und alle Tätigkeit ist wirk-
lich (= seiend). D a m i t i s t d a s I d e a l e , d a s I c h , d i e e r s t e W i r k -
l i c h k e i t u n d a l l e s a n d e r e a b g e l e i t e t e W i r k l i c h k e i t — ein
ontologischer Lehrsatz von größter Tragweite. Es ist wichtig zu erkennen, daß
auch für Kant dieser Satz gelten müßte, und zwar infolge des unbedingten Vor-
ranges des Apriori (das ja Tätigkeit ist) vor dem Inhalte (des Sinnenreizes). Nach
dem Vorrange der praktischen Vernunft vor der theoretischen und nach der Lehre
von der intelligiblen Freiheit gilt es ferner auch nicht nur für die Erscheinungs-
welt.
1
Johann Gottlieb Fichte: Sonnenklarer Bericht (1801), Leipzig 1922, S. 407
und 409 (= Werke, Ausgabe Medicus, Bd 3 = Philosophische Bibliothek, Bd 129).