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H e r a k l i t sagt: „Der Seele Grenzen findest du nicht, auch wenn du alle

Straßen wanderst; so tief reicht ihr vernünftiges Wesen.“ „Jener göttliche und

gemeinsame Verstand, durch dessen Mithaben wir verständig werden, ist das

entscheidende Kennzeichen der Wahrheit.“

1

— P l a t o n sagt, „daß der Geist

(vovg)

mit der Ursache [Gott] verwandt sei“

2

und daß der Geist „Herr-

scher und Ordner von allem“

3

sei, ferner, daß die „menschliche Seele dem Gött-

lichen vergemeinschaftet“

4

sei. — Dem A r i s t o t e l e s ist die Seele in ihrem

höchsten Teile schöpferischer Geist

(

νούς

ποιητικός

).

Hiermit ist sie Einerlei-

heit des Denkenden und Gedachten

5

und, wie sie als solche dem Fichteschen Ich

und Nichtich gleicht, ist sie auch das Absolute. Dies ist auch der Sinn des Aristo-

telischen Satzes, daß der Geist der Möglichkeit nadi

(δυνάμει)

alle Dinge sei

6

.

Wie die N e u p l a t o n i k e r u n d M y s t i k e r , wie die an Platon oder

Aristoteles angeschlossenen S c h o l a s t i k e r von ähnlichen Gesichtspunkten ge-

leitet sind, haben frühere Anführungen ergeben

7

. — Daß endlich S c h e l l i n g

u n d H e g e l den Geist als das Absolute setzen und Fichtes Standpunkt nur

erweiterten, ist teils schon ans / Licht getreten, teils wird es später noch ge-

schehen. — N o v a l i s sagt: „Wir träumen von Reisen ins Weltall: Ist denn das

Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht.“ — Nichts

anderes sagt das bekannte Tat t v a m a s i (das bist du) der altindischen Weis-

heit.

Daß der Geist göttlich sei und der Mensch gottverwandt, ist auch Grundlehre

des Christentums. Christus sagt: „Gott ist Geist. Und wer ihn anbetet, muß ihn

im Geiste und in der Wahrheit anbeten.“ — „Ihr seid Götter“

8

. „Quotquot autem

receperunt eum, dedit eis potestatem filio Dei fieri.“

9

Über die S c h u l e F i c h t e s siehe unter Spätidealismus, unten Seite 300 f.

F.

R ü c k b l i c k a u f d e n k r i t i s c h e n u n d

s i t t l i c h e n I d e a l i s m u s

(Kant und Fichte)

1. Die E r k e n n t n i s t h e o r i e

Zunächst liegt der äußeren Entwicklung nach eine Ungleichheit zwischen Kant

und Fichte darin, daß Kant von der Unterscheidung allgemeingültiger und empi-

1

Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd 1, 4. Aufl., Berlin

1922, Fragment Nr. 45.

2

Platon: Philebos, übersetzt und erläutert von Otto Apelt, 2. Aufl., Leipzig

1922, 31a (— Philosophische Bibliothek, Bd 145).

3

Platon: Gesetze, übersetzt und erläutert von Otto Apelt, Leipzig 1916,

966 d, f (= Philosophische Bibliothek, Bd 159—160).

4

Platon: Phaidon, übersetzt von Otto Apelt, 2. Aufl., Leipzig 1920, 321

(= Philosophische Bibliothek, Bd 147).

5

Siehe unten S. 246 ff.

6

Siehe unten S. 247.

7

Siehe oben S. 96 ff.

8

Johannes, 10, 34.

9

Johannes, 1, 12.