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rischer Erkenntnisse ausging, Fichte dagegen von der Selbstsetzung, die ihm kein
bloßer Begriff war, sondern eine innere Anschauung, „intellektuelle Anschauung“,
wie er sie (mit Kant) nannte. In der ferneren Entwicklung der Erkenntnistheorie
zeigt sich bei Kant als Achse von allem das Apriori und seine Durchführung in der
Kategorienlehre, an die sich erst alles andere anschließt; während hei Fichte die
Achse von allem die Selbstsetzung ist, welche über die Kategorienlehre hinaus zur
Lehre von der Selbsterzeugung des Geistes und das heißt nicht weniger als zur
inneren Geschichte des Selbstbewußtseins wird. Demgemäß ist die Kategorienlehre
Fichtes ableitend-konstruktiv, jene Kantens dagegen insoferne induktiv, als sie aus
den Urteilsformen gewonnen wird, was allerdings auf den falschen Versuch hin-
ausläuft, durch Absehen von den Gegenstandsbestimmungen, den Denkinhalten, zu
den reinen Verstandesbestimmungen, den Denkformen, zu gelangen.
Mit all dem geht Fichte über den Kantischen Begriff des Apriori hinaus. Das
Apriori ist ihm keine bloß subjektive und keine bloß formale Bedingung der Er-
fahrung mehr, sondern in einem weiteren Sinne ist nun das Gesamtbewußtsein,
auch die Empfindung, apriori. Allerdings nur in einem weiteren Sinne. Im engeren
Sinne ist ihm die Empfindung (die Natur) als bewußtlose Setzung und als
Schranke des Ich doch nicht dasselbe wie die bewußte Setzung des Ich. Daher wir
sagen dürfen, daß bei Fichte ein u n m i t t e l b a r e s Apriori in allen Setzungen
des Bewußtseins und ein m i t t e l b a r e s in allen Empfindungsinhalten (Natur)
zu unterscheiden wäre.
Fichte selbst hat freilich diesen Unterschied nicht gemacht. Aber die Haupt-
schwäche der Kantischen Lehre, die Subjektivität des Apriori, war schon damit
überwunden, daß Fichte das „Ding an sich“ nicht wie Kant außerhalb des Ich
setzte.
Die große Ü b e r e i n s t i m m u n g jedoch, welche alle diese Verschieden-
heiten / überhöht, liegt darin, daß das Apriori von Fichte festgehalten, erweitert
und in strengerer Einheit gefaßt wurde.
Ferner unterscheiden sich die Kategorientafeln Kantens und Fichtes nicht nur
inhaltlich, sondern noch mehr dadurch, daß bei Kant einzelne Kategorien für sich
geändert werden könnten (zum Beispiel wenn eine andere Urteilstafel zugrunde
läge); dagegen bei Fichte alle Kategorien ein Ganzes in Gegenseitigkeit bilden.
Kein Teil kann sein, ohne daß alle übrigen Teile wären, alle übrigen nicht, ohne
daß der einzelne wäre. Gerade daraus versteht es sich, daß bei Fichte die Katego-
rienlehre — zusammen mit den anderen Bestimmungen der Setzungsschritte des
Ich — ein Bild des Gefüges des gesamten Bewußtseins ergibt. Fichte nannte sie
Bewußtseins-"Gnosogonie“
1
.
Wie man sieht, liegt der Unterschied wesentlich im Systemaufbau. Im übrigen
bestehen nur untergeordnete und aus diesem Aufbau folgende Zwistigkeiten.
Beiden Lehren g e m e i n s a m ist außer dem Aprioribegriffe der Kategorien-
begriff, ferner die Spontaneität, die Dialektik, die nicht-relativistische Sitten- und
Wahrheitslehre — also gerade die grundsätzlichen Lehrbegriffe.
In weniger entwickelter Form finden sich Entsprechungen dieser Begriffe auch
bei S o k r a t e s . Seine Allgemeinbegriffe (Definitionen) weisen auf das Apriori,
die Kategorie und die Wahrheitslehre hin.
1
Johann Gottlieb Fichte: Sonnenklarer Bericht (1801), Leipzig 1922, S. 399
(= Werke, Ausgabe Medicus, Bd 3 = Philosophische Bibliothek, Bd 129).