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dieses Zieles möchte aber dieses Buch führen. Wer den Geist erkennt,
dringt auch in die Tiefen der Welt.
Soll das „Erkenne dich selbst“ mehr sein als eine bloß sittliche
Ermahnung, dann muß vor allem der Gegensatz von Seelenlehre
und Erkenntnislehre überwunden und die Einheit beider (sowie
noch anderer, jetzt getrennter philosophischer Fächer) wiederherge-
stellt werden. Soll aber das geschehen, dann muß vorher die schon
angedeutete verneinende Aufgabe gelöst, somit das gesamte V e r -
f a h r e n der neuzeitlichen Seelenlehre, nämlich das naturwissen-
schaftliche, beseitigt und durch ein anderes ersetzt werden. Dies
kann nur das g a n z h e i t l i c h e Verfahren sein. Erfreulicher-
weise liegen Versuche dazu (und nicht ohne heimliche Anleihen bei
mir) mehrfach vor. Aber unbegreiflicherweise suchen sie Unver-
einbares zu vereinigen. Sie wollen den naturwissenschaftlichen Ge-
setzesbegriff, den naturwissenschaftlichen Versuch, kurz, das ursäch-
lich-mechanistische Verfahren aufrechterhalten, ja sie wollen sogar
größtmögliche „Exaktheit“ erlangen — und dennoch ganzheitlich
sein! Damit beweisen sie, daß sie über das Wesen der Ganzheit noch
im Dunkeln blieben.
Wie der Ganzheitsbegriff in Wahrheit zu fassen, wie aus ihm ein
arteigenes, dem Geiste wesensgemäßes Verfahren zu gestalten sei,
das habe ich in vieljähriger Arbeit an den gesellschaftlichen Wis-
senschaften, den Wissenschaften vom Gesamt- / geiste, planmäßig
entwickelt und erprobt. Ich habe es nunmehr auch in der Geistes-
lehre durchgeführt. Übrigens wurden die Grundbegriffe, die mit
Hilfe dieses Verfahrens in den folgenden Blättern begründet und an-
gewendet werden, schon in meinen früheren Werken, namentlich in
der Geisteslehre (Pneumatologie) meines Buches „Der Schöpfungs-
gang des Geistes
1
“ entwickelt.
Der Landstrich, in dem ich dieses Vorwort schreibe, Ägypten mit
seinem Reichtum an Geschichte und Gegenwart des Geistes, gibt
mir neue Zuversicht, den rechten Weg gegangen zu sein. Denn hier,
wo so mancher Menschenschlag und so viele Gesittungen mit eige-
nen lebensgestaltenden Gedanken und daraus hervorgegangenen
Lebensordnungen dicht nebeneinander auftreten, wo das Uralte und
1
Der Schöpfungsgang des Geistes (= Ergänzungsbände zur Sammlung Herd-
flamme, Bd 3), Jena 1928.