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Einleitung

Das größte Werk des Geistes ist, seiner selbst mächtig zu werden.

Obwohl aber alles in ihm darauf angelegt ist, kann er dies Ziel nie

ganz erreichen.

Im Selbstbewußtsein kehrt sich der Geist zu sich selbst, was kein

Ding sonst vermag. Er überwindet damit den Wandel der Zeit, denn

er bleibt bei aller Veränderung bei sich selbst und stellt sich über alle

Vergänglichkeit. Dennoch verfinstert er sich in Irrtum, Wahnsinn,

Häßlichkeit, sinnliche Unfreiheit, Weltlichkeit, und obwohl das

selbstbewußte Denken den Tod jeden Augenblick überwindet, ist

er der Bewußtlosigkeit, dem Sterben anheimgegeben.

Kein Wunder, daß bei diesem widerspruchsvollen Anblicke des

menschlichen Wesens die Lehre vom Menschen verschiedene Wege

geht, daß sie in Verfallszeiten den finsteren Zügen den Vorzug gibt

und den Geist von da aus — als Naturerscheinung! — zu erklären

sucht. Das tut auch die heutige naturwissenschaftliche „Erfahrungs-

seelenlehre“, und gegen sie muß sich dieses Buch vor allem wenden.

Als der Verfasser dieses Buches in jungen Jahren auf Anraten

eines älteren Freundes ein damals hochberühmtes Lehrbuch der

Psychologie erwarb, zitterte er vor Erwartung, in die Geheimnisse

des inneren Lebens eingeführt zu werden. Bald aber fand er sich in

den tiefsten Abgrund geschleudert. Er erfuhr, daß, dem unwider-

sprechlidhen Ergebnisse einer strengen, lediglich / die Erfahrung

anerkennenden Wissenschaft zufolge, die menschliche Seele nichts

anderes sei als eine Ansammlung von Vorstellungen, die sich zuletzt

aus Sinneseindrücken ableiteten.

Ergeht es dem heutigen Jünger der Wissenschaft besser? Mit-

nichten! Die „Psychologie ohne Seele“, wie sie sich mit Stolz nannte,

herrscht auch heute noch, wenn auch in zum Teil verhüllten, weniger

rohen Formen. Ihr möchte dieses Buch eine p h i l o s o p h i s c h e

G e i s t e s l e h r e entgegenstellen, welche den Geist in seiner

Größe anerkennt und die Tatsachen tiefer aufzufassen vermag als

eine mit den unzulänglichen Mitteln des „Experimentes“ und natur-