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herab. Stetigkeit und Gestalt als überräumliche Einheitserschei-
nungen verhindern aber die völlige Vereinzelung und damit die
völlige Vernichtung.
2.
Eine andere Erfahrung aus dem geistigen Leben, die wir
auch auf das Naturhafte übertragen können, lehrt uns: daß nicht
nur Zwiespalt und Selbstsucht zur Trennung und Scheidung
führen. Auch ein Mangel an innerer Lebendigkeit und Lebens-
fülle, an einheitlicher Setzungskraft und Erneuerungskraft kann
ein Bestehendes gleichsam zerfallen lassen. Alles, was träge und
unlebendig wird, dem entfallen sozusagen seine Bestandteile.
Das auf diese Weise zur annähernden Selbst-losigkeit Erstarrende
entfällt dem schaffenden Grunde, es kann dadurch auseinander-
geraten und jene Räumlichkeit bilden, welche nur noch durch
Stetigkeit und Gestalt noch befaßt und vor der völligen Vernich-
tung bewahrt wird.
3.
Die letzte und mächtigste Möglichkeit ergibt sich aber in dem,
was man mit Recht den unerschöpflichen B i l d u n g s t r i e b
der Natur nannte, was man aber auch als ihren Trieb zur
S e l b s t b e z e u g u n g bezeichnen kann. Die Natur denkt
nicht (sonst wäre sie Geist); aber die Gegenseitigkeit des Anein-
anderwerdens muß den immateriellen Wesenheiten, die sich in
der räumlichen Stoffwelt darstellen, ebenso eigen sein wie dem
Geiste in der Gezweiung
1
.
/
Dieses gegenseitige Aneinanderwerden nun wird — so ließe
sich diese Möglichkeit weiter verfolgen — der Natur zum
Wesentlichsten ihres Daseins. Das S i c h u n t e r s c h e i d e n ,
d a s A u s e i n a n d e r t r e t e n d e r i m m a t e r i e l l e n
E l e m e n t e
m i t
d e m
Z w e c k e
d e s
S i c h - a n e i n a n d e r - E r s c h a f f e n s w i r d d a h e r
b i s a u f s ä u ß e r s t e g e t r i e b e n — e s e n d e t i n
d e r r ä u m l i c h e n T r e n n u n g .
Stetigkeit und Gestalt bewahren dann davor, daß die räumliche
Trennung eine völlige Vereinzelung werde, wie im Falle der
beiden anderen Möglichkeiten.
Auf diese Weise betrachtet, wäre die räumliche Trennung
der Teile kein Absturz, sondern zwar Übergang in eine andere
Seinsebene, aber zugleich der Rausch und Sieg, der höchste
Selbstgenuß der Naturwesen.
1
Siehe oben S. 161 ff.