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Für den die Welt sinnlich Betrachtenden, an der Oberfläche Haf-
tenden, ist der Mensch nur ein Naturerzeugnis ein denkendes Tier,
welches sich einen Gott träumt. Für den in die Tiefe Dringenden ist
der Mensch von göttlicher Wurzel, sein Geist ist übernaturhaft,
reicht bis in die Gründe der Gottheit zurück und vermag auch in
der Welt durch innere Freiheit und mystisches Erleben seine gött-
liche Art zu beweisen
1
.
3.
Einheit von Gott und Welt
Seelengrund gleich Weltgrund
Die Erfahrung des unoffenbaren Geistesgrundes oder Seelen-
grundes, den Meister Eckehart das „Fünklein“ nannte, ist an / sich
begrifflos; sie schließt aber doch e i n Fundamentalbewußtsein un-
mittelbar in sich: daß dieser göttliche Grund der Seele zugleich
Weltgrund, damit auch der Weltgrund göttlich sei.
Dieses unumstößliche Bewußtsein mystischer Erfahrung muß
freilich, um ausgesprochen zu werden, auch erst eine bestimmte be-
g r i f f l i c h e Fassung, Deutung erhalten. Das Begriffliche gehört
nicht mehr der Mystik an, das zu Deutende aber wohl.
Das einfachste und überzeugendste Bekenntnis sprach die heilige T h e r e s i a
aus, indem sie sagte: „Anfangs wußte ich nicht, daß Gott in jedem Wesen sei...
Aber als ich ihn während dieses Gebetes (ekstatischen Zustandes) in meiner
Seele gegenwärtig fand; als die Erkenntnis, welche ich von dieser Gegenwart
hatte, mir so klar vorkam, war es mir gänzlich unmöglich, daran zu zweifeln“
2
.
Und in ihrer späteren Schrift „Die Seelenburg“ erzählt sie dieselbe Erfahrung
mit folgenden Worten: „Ich weiß von einer Person [sie selbst], die nicht gewußt
hatte, daß Gott in allen Dingen sei... und die erst dadurch, daß Gott ihr eine
derartige Gnade [die Ekstase] erwies, zu diesem Glauben kam“
3
.
Begrifflich kann diese Einheit von Gott, Seelengrund und Welt-
grund durch die Formel ausgedrückt werden: G o t t i s t d a s
S e i n , D e u s e s t e s s e , wie die Scholastik sagte, womit sie
meinte, daß jedes Ding im tiefsten Grund seiner Existenz durch
Gott getragen werde. Meister Eckehart erläutert dies in seiner ge-
nialen Weise dahin: Gott ist dem Stein ebenso nahe wie dem Men-
1
Inwiefern Ebenbildlichkeit auch rein analytisch als eine g a n z h e i t l i c h e
K a t e g o r i e d e r A u s g l i e d e r u n g zu betrachten sei, darüber vgl. meine
Kategorienlehre, 2. Aufl., Jena 1939, S. 124 ff. [3. Aufl., Graz 1969, S. 118 ff.].
2
Heilige Theresia: Das Leben... von ihr selbst beschrieben, bearbeitet von
Aloisius ab Immaculata Conceptione, Kapitel 18, Regensburg 1919.
3
Heilige Theresia: Sämtliche Werke, Bd 4, 1, Regensburg 1922, S. 106.