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2. Gottverwandtschaft des Menschen

Ein unendlich wichtiger Beitrag zur Konkretisierung der Religion

ist die unmittelbar und unverbrüderlich in aller mystischen Erfah-

rung liegende Einheit des menschlichen Seelengrundes mit Gott.

Hier liegt der wahrste Kern der Religion. Geradewegs drückt dies

Angelus Silesius aus:

„Bist du aus Gott gebor’n, so blühet Gott in dir:

Und seine Gottheit ist dein Saft und deine Zier.“

Die gesamte Mystik der Welt lehrt die Göttlichkeit der Seele. Nie

gab es auf Erden eine Mystik, welche sie nicht lehrte. Die / Mystik

kann nicht anders, denn sie erfährt es unmittelbar und läßt sich

diesen kostbaren Schatz ihres inneren Lebens nicht rauben.

Die hohe Stellung, welche jede höhere Religion dem Menschen

anweist, beruht auf dieser Erfahrung. Sie kommt auch in den

Mythologien auf mannigfache Weise zum Ausdruck, besonders da-

rin, daß diese die Menschen von Göttern abstammen lassen.

Ein anderes als die Erfahrung der Göttlichkeit der Seele selbst, ist

freilich ihre Deutung und Anwendung. Diese Deutung ist den je-

weiligen Begriffsmitteln unterworfen, welche die verschiedenen Kul-

turen dem Mystiker darbieten. Ob daher die Einheit der Seele mit

Gott geradezu als Einerleiheit, Identität im strengen realen Sinn

verstanden werde und die V e r g o t t u n g

1

damit auf die Spitze

getrieben erscheint (womit unter einem ein naturalistisches Moment

in die Deutung kommt, da Gott dabei allzuleicht nach Art der

natürlichen Erscheinungsweise des menschlichen Geistes erfaßt wird);

oder ob die Einheit der Seele mit Gott nur aus G n a d e gedacht

werde, so daß trotz aller Vergottung die Seele doch nur ein Ge-

schöpf bleibt, über welchem der Schöpfer noch himmelhoch steht,

wie Meister Eckehart in der 56. Predigt sagt: „Gott ist viel tausend

Meilen darüber“

2

; oder ob endlich von vornherein nur eine We-

sens V e r w a n d t s c h a f t , keine reale Wesensgleichheit behauptet

werde, welche Verwandtschaft noch unbestimmter als E b e n b i l d -

l i c h k e i t gefaßt werden kann — das alles geht auf Rechnung der

begrifflichen Deutung des Erlebten, auf Rechnung der jeweiligen

1

Siehe unten S. 89.

2

Franz Pfeiffer: Meister Eckhart, Leipzig 1857, S. 180, Zeile 17 f.