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Ferner kann durch den Ahnendienst zugleich das V e r h ä l t -
n i s d e r K i n d e r z u d e n E l t e r n r e l i g i ö s b e s t i m m t
w e r d e n : Die Eltern stehen schon den (göttlichen) Ahnen näher
und erhalten dadurch eine erhöhte Autorität, ebenso der ältere
Bruder gegenüber dem jüngeren Bruder (so besonders in China).
Hier handelt es sich keineswegs um bloße gesellschaftliche Ord-
nungsverhältnisse, wie man diese Erscheinungen aufzufassen pflegt,
sondern um religiöse.
(f)
Aus der mystischen Erfahrung ist zuletzt auch die Vorstellung
von dem Z u s t a n d n a c h d e m T o d geschöpft; aber es kom-
men noch magische Elemente — Spuk- und Geistererscheinungen —
hinzu; ferner Elemente einer nachträglichen, begrifflichen Deutung,
wodurch große Verschiedenheiten in den Vorstellungen der Reli-
gionen über das Schicksal der Seele entstehen können.
Aus der Verwandtschaft der Seele mit Gott kann (unabhängig
von den oben berührten Prämissen) gefolgert werden: daß der
Tote selbst zu einem G o t t werde und ein göttliches Leben führe,
an der göttlichen S e l i g k e i t teilhabe, die in der / mystischen Ek-
stase schon vorweggenommen wird. Aus solcher Vergottung des
Toten ist es abermals verständlich, daß die Ahnen schließlich zu
Göttern werden: „ d i i s m a n i b u s “ stand auf den römischen
Grabsteinen. Diese Götter sind wieder mit anderen Göttern ver-
bunden.
Dabei ergeben sich je nach der verschiedenen Bedeutung sittlicher
Vorstellungen in den betreffenden Kulturen jeweils verschiedene
Vorstellungen vom G e r i c h t . Der Totenrichter fehlt daher in
keiner höheren Religion, weder in der ägyptischen, noch in der
homerischen
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, noch in anderen polytheistischen Religionen, noch
bei Zarathustra.
Außer der mystischen Erfahrung, welche die Seele Gott verwandt
weiß, und den sittlichen Vorstellungen, die damit verbunden wer-
den, kommt aber noch ein anderer Umstand für die Ansichten vom
Schicksal der Seele nach dem Tod in Betracht: Das Verhältnis der
Seele zur Natur. Die mystische Erfahrung überhöht die Natur. Das
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Schon allein Gestalten wie die des Sisyphos (Odyssee XI, 5981) widerlegen
die Ansicht, daß dem Eingehen in die homerische Unterwelt kein Totengericht
vorherginge. Minos, Rhadamanthys und Aiakos sind keineswegs nur als Richter
i n n e r h a l b der Welt der Toten zu denken.