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daher auch nur unsichere religiöse Empfindungen; sie kann darum
leicht leerem Aberglauben und argen Mißleitungen anheimfallen.
In den Tiefen seiner Seele indessen bleibt der Mensch religiös.
Daraus folgt als grundlegende Unterscheidung von Trägern des
Gottesbewußtseins:
1.
Religionsstifter und spätere, ihnen nachfolgende mystische
Führer (große Heilige);
/
2.
Jünger;
3.
Gemeinde (Menge).
Nur die mystischen Führer vermögen später eine Religion immer
wieder wachzuhalten; nur die Jünger vermögen die Erweckungsim-
pulse ganz aufzunehmen; dagegen hat das religiöse Leben der
großen Menge niemals Ursprünglichkeit an sich. Die Menge folgt
teils willig, teils unwillig, teils sogar unter bloßem Vorgeben der
echten Empfindungen; welches Vorgeben sich mehr oder weniger
zur S c h e i n f r ö m m i g k e i t u n d H e u c h e l e i steigern kann,
oder welche Unwilligkeit sich von religiöser G l e i c h g ü l t i g -
k e i t bis zu offenem W i d e r s t a n d und A b f a l l steigern kann.
Die hiermit gegebenen Entstellungen, das heißt F e h l a u s g l i e -
d e r u n g e n des religiösen Lebens zeigen sich in der Religionsge-
schichte aller Zeiten und Völker als grundsätzlich dieselben. Und
erst die Einsicht, daß die mystische Erfahrung die letzte ur-
s p r ü n g l i c h e Quelle des Gottesbewußtseins sei, macht sie ebenso
verständlich, wie daß es überall Krankheiten gibt; vom Standpunkt
der „Naturursachen“ der Religion hingegen oder auch besonderer
Offenbarungen wären sie unverständlich!
1
Von allen Seiten her kommen wir so zu dem Ergebnis: Das Be-
wußtsein vom Dasein Gottes steuert die Mystik der menschlichen
Seele bei und legt damit den Grund zur Religion. Mit dieser Grund-
legung leistet sie zugleich den ersten Beitrag zur leibhaftigen Aus-
gestaltung, Konkretisierung der Religion
2
.
1
Mehr darüber unten S. 311 ff.
2
Ober den Gottes b e g r i f f siehe unten S. 102 ff. und 374 ff.