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ferne des irdischen Seins, insbesondere des Bösen im Menschen,
auszudrücken, ist der Begriff der Nichtigkeit des irdischen Seins.
„Wer Gott sieht, der erkennt, daß alle Kreaturen nicht sind“, sagt
Meister Eckehart
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Um die vergleichsweise Nichtigkeit des Irdischen, insbesondere
des Empirischen am Menschen selbst, zu erklären, werden in den
höheren Religionen die verschiedensten Versuche gemacht. Man
kann sagen, daß sie alle darauf hinauslaufen, eine intelligible Tat,
ein vorweltliches Geschehen anzunehmen, durch welches eine nach -
trägliche G o t t e n t f r e m d u n g , Verderbnis, corruptio, φθορά
des ursprünglich vollkommenen Menschen erklärt werden soll. Die-
ses Geschehen selbst kann aber wieder zuletzt nur durch eine
Empörung oder Urschuld oder einen F a l l , A b f a l l versinnbild-
licht werden.
Das gilt nun dem naturalistischen Denken von heute besonders
anstößig. Aber man bedenke, daß die genannten Prämissen schlecht-
hin gegeben sind und auf eine Schlußfolgerung solcher Art notwen-
dig hindrängen.
Alle die angeführten Begriffe enthalten freilich insofern etwas
Unzulängliches, ja Naives, als man nicht nachzuweisen vermag,
wie sie mit der, über alle Vorstellungen hinausgehenden Vollkom-
menheit Gottes, die seinen Geschöpfen doch hinlänglich mitgeteilt
werden müßte, zusammen bestehen können. Wenn man dafür auf
die, den geistigen Geschöpfen, besonders den Menschen, zukom-
mende Freiheit verweist, so betrifft das nur die formale Möglich-
keit, sich dem Bösen zuzuwenden, noch nicht die reale Ausführung.
Am drastischesten kommt diese Schwierigkeit in jener Lösung
zum Ausdruck, welche sich in der germanischen (aber auch in der
griechischen) Mythologie findet. Dort ist die S c h u l d d e r G ö t -
t e r selbst — das wäre ebenfalls ein Abfall — der Grund des Un-
vollkommenen und Übels in der Welt, welcher erst in der Götter-
dämmerung getilgt wird. Der indische Begriff des Kaliyuga bildet
ebenfalls eine Form des Begriffes von der Schuld der Götter.
Die vorsichtigste Form fand der Begriff des Abfalls wohl in
Platons „Phaidros“, wo jene Seelen die Flügel verlieren und zur /
Erde niedersinken, deren Lenker, der Geist, das wahre Sein, die
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Franz Pfeiffer: Meister Eckhart, Leipzig 1857, S. 222, Zeile 33 f.