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Aus diesem Begriff der Erlösung wird verständlich, was wir
von ihr in Leben und Geschichte sehen: Unzulänglichkeiten, Übel,
das Böse, damit Schuld und Sünde sind Erscheinungen, von denen
sich der Mensch zu befreien hat. Die Erlösung ist demnach eine
Unvollkommenheitskategorie.
Nun ist aber als entscheidend dabei zu beachten: Der religiöse
Begriff von Befreiung, Erlösung folgt keineswegs aus dem empiri-
schen Glückstreben des Menschen. Keineswegs! Er folgt erst aus
einer transzendenten Erfahrung, aus dem Innewerden der Rück-
verbundenheit des Menschen in einem Sein höherer Ebene, einem
göttlichen Sein. Und darum ist Erlösung eine, wenn auch abgeleitete
und begrifflich verschieden bestimmte, so doch n o t w e n d i g e
religiöse Kategorie. Das göttliche Sein wird in allen höheren Re-
ligionen als von Unvollkommenheiten frei gepriesen und in den
niedersten Religionen allermindestens als dem Menschen überlegene,
daher auch vollkommenere Macht empfunden.
Die Quellen dieses Wissens der Vollkommenheit des göttlichen,
rückverbindenden Seins liegen in der mystischen Erfahrung. Dar-
um konnten sogar die primitiven Völker zur Idee der Erlösung
gelangen oder, wohl richtiger, sie aus alten, höheren Erinnerungen
bewahren. Denn an sich würden ihr Wissen, ihre Geisteskraft und
ihre nur spärlichen Hilfsmittel des Lebens selten ausreichen, um so
große Gedanken zu fassen, wie sie in einem höheren Erinnern gött-
lichen Daseins und in der Erhebung zu ihm durch Erlösung von
den irdischen Übeln liegen. Aber mystische Erfahrung ist ihnen
teils, wenn auch getrübt, überliefert, teils selbst nicht unerschwing-
lich.
In jeder echten Mystik erscheint der Abstand zwischen Gott
und Welt als ungeheuer, die Welt selbst immer als unvollkommen
und vom Bösen bedrückt. Daher liegt Unvollkommenheitsbewußt-
sein jeder Mystik im Blut, mag dies nun begrifflich mehr oder we-
niger zum Ausdruck kommen. — Im Gefolge der Erlösung treten
notwendig noch weitere, sie ergänzende Begriffe auf.
β. Abfall
Eine besondere Form, diesen Abstand zwischen der mystisch
erfahrenen Vollkommenheit und Wonne des überweltlichen Seins /
gegenüber der empirisch erfahrenen Unvollkommenheit und Gottes-