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ist in allen Kreaturen als sie Wesen haben und ist doch darüber“

sagt Meister Eckehart

1

. Alle Menschen sind demnach in Gott, alle

haben denselben unoffenbaren Geistesgrund, welcher Gott selbst ist.

Eben daraus folgt auch die Einheit jedes Menschen mit jedem an-

deren und das bedeutet wieder notwendig: die M e n s c h e n -

l i e b e . „Liebet euch untereinander“, ist Urinhalt jeder Mystik,

obgleich ihm nicht jede Mystik dieselbe Deutung gibt, ihn nicht

jede auf dieselbe Weise ausspricht.

Die Menschenliebe schließt auch die L i e b e z u d e n V e r s t o r -

b e n e n in sich und verwandelt sich darin, weil sie zu den Abge-

schiedenen notwendig eine andere Form annehmen muß, in Toten-

verehrung. „Die Liebe ist stärker als der Tod.“

Auf dieselbe notwendige Weise folgt aus der Einheit des Welt-

grundes mit dem Grund aller Wesen auch die a l l g e m e i n e

G e s c h ö p f e s l i e b e , welche alle lebenden Wesen umfaßt; und

noch allgemeiner folgt daraus endlich: die N a t u r l i e b e . Der

mystische Grund der Naturliebe zeigt sich auch deutlich in der

Naturpoesie. Wir führen als Beispiel den „Sonnengesang“ des hei-

ligen Franziskus an: /

„Höchster, allmächtiger, gütiger Herr!

Dein ist das Lob, die Ehre und jegliche Segnung,

Dir allein gebühren sie,

Und kein Mensch ist würdig, Dich zu nennen.

Gelobt sei, mein Herr, mit allen Deinen Geschöpfen,

Vornehmlich mit unserer Frau Schwester, der Sonne,

Die den Tag wirkt und uns leuchtet durch ihr Licht;

Und sie ist schön und strahlend mit großem Glanze,

Von Dir, o Höchster, trägt sie das Sinnbild.

Gelobt sei, mein Herr, durch unsern Bruder, den Mond, und die Sterne,

Am Himmel hast Du sie gebildet, so klar und funkelnd und schön.

Gelobt sei, mein Herr, durch unsern Bruder, den Wind,

Und durch die Luft und die Wolken und jegliche Witterung,

Durch welche Du Deinen Geschöpfen Erhaltung schenkst.

Gelobt sei, mein Herr, durch unsern Bruder, das Wasser,

Das sehr nutz ist und demütig und köstlich und keusch.

Gelobt sei, mein Herr, durch unsern Bruder, das Feuer,

Durch das Du die Nacht erhellst.

Und es ist schön und freudig und sehr stark und gewaltig.

Gelobt sei, mein Herr, durch unsere Schwester, die Mutter Erde,

Die uns versorgt und ernährt

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Predigt 9 bei Josef Quint: Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Trak-

tate, München 1955, S. 143, Zeile 1.