[194/195]
215
Beide geben ein Bild davon, wie das mystisch-monotheistische
Bewußtsein den Übergang zum polytheistischen Bewußtsein voll-
zieht.
Wir können als Gesamtergebnis aussprechen: Die mystische
Geisteslehre, das ist die jeweilige m y s t i s c h e A u f f a s s u n g
v o n d e r A u s g l i e d e r u n g d e s G e i s t e s , b i l d e t d i e
G r u n d l a g e f ü r d i e G l i e d e r u n g d e r g ö t t l i c h e n
T e i l m ä c h t e , und zwar zuerst auf der Stufe der geistig-sitt-
lichen und sodann erst auf der Stufe der natürlich-kosmischen Welt.
In der mystischen Gotteserfahrung vollzieht sich zugleich die tiefste
Selbsterkenntnis.
/
Dieser Satz darf nicht überraschen, ihm liegt die Kategorie der
Gottverwandtschaft zugrunde. Der Mensch ist Mikrokosmos, sein
Geist ist aus der Quelle der Gottheit geschöpft. So klärt sich das
wundervolle Rätsel, daß der Mensch erst von sich selbst aus die
Welt und die in ihr waltenden Gotteskräfte verstehe.
Die Erkenntnis der Welt aus dem menschlichen Geist ist zu-
gleich eine Erkenntnis ihrer Göttlichkeit und darum auch, sobald
das menschliche Bewußtsein sich zum Polytheismus wandte, ihrer
Götterwelt.
Ganz allgemein finden wir ferner in der altvedischen Götterwelt die Abstu-
fungen von ungeborenen und entstandenen Göttern, sowie die Abstufung in
solche Götter, die nur in Hymnen und solche, die sowohl in Hymnen als auch
durch Gaben gefeiert werden
1
, und dahinter steht noch die e i n e , über allem
thronende Ur-Gottheit. Das beweisen nicht nur die philosophischen Hymnen des
Rigveda und des Atharvaveda, von denen wir oben
2
Proben gaben, das beweist
auch eine berühmte Stelle der Brihadaranyaka-Upanischad, wo die Zahl der Göt-
ter, zunächst 3306, Schritt für Schritt auf 33, 6 usw. und schließlich auf eine
herabgesetzt wird. Es heißt dort
3
:
1.
„Wieviele Götter gibt es, Yâjnyavalkya? — Und er antwortete .. . 3306. —
Om! So sprach er, wieviele Götter gibt es also, Yâjnyavalkya?“ — Dreiund-
dreißig. — Om! So sprach er, „wieviele Götter gibt es also, Yäjnyavalkya?“ —
Drei. — Om! So sprach er, „wieviele Götter gibt es, Yäjnyavalkya?“ .. . Einen.
— Om! So sprach er: „Welches sind jene 3306?“
2.
Und er sprach: „Das sind nur ihre Kräfte; Götter aber gibt es nur drei-
unddreißig.“ — „Acht Vasus, elf Rudras, zwölf Adityas, macht einunddreißig
und noch Indra und Prajâpati als dreiunddreißigster.“ Weiter heißt es: „Welche
1
Vgl. Friedrich Max Müller: Beiträge zu einer wissenschaftlichen Mythologie,
deutsch von Heinrich Lüders, Bd 2, Leipzig 1889, S. 59.
2
Siehe oben S. 209 f.
3
Brihadaranyaka-Upanishad III, 9, 1 f., deutsch von Paul Deussen.