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Was uns aber das Wichtigste dünkt und Weinreich nicht erwähnt: Diese Tafel
zeigt eine Generationenfolge: s e c h s a l t e u n d s e c h s n e u e G ö t t e r ,
die Kronossöhne und -töchter einerseits (die man paarweise verbinden kann,
Zeus-Hera usw.), die Zeussöhne und -töchter andererseits (die ebenfalls paar-
weise verbindbar sind, Hermes-Artemis usw.). Die jungen Götter können dem-
nach als Fortgliederungen, Emanationen oder Funktionen der älteren aufgefaßt
werden. Auf diese Weise erhalten die Zwölfgötter mit einem Schlag sinnvolle
Abstufung. Demnach wären die Kronoskinder entstandene Götter, nicht Ur-
götter, welch letztere in der Urheimat, dem Urschöpfer oder Urgeist latent ent-
halten wären, immer innergöttlich blieben, Weltgötter oder entstandene Götter
ersten Ranges; die Zeuskinder dagegen wären wieder aus diesen letzteren ent-
standen, mithin entstandene Götter, Weltgötter zweiten Ranges.
Wenn dagegen W o l f A l y sagt, es seien „in den zwölf Olympiern nicht
etwa zwölf große einzelne Götter zusammengeflossen, sondern eine viel größere
Zahl von lokalen Gottheiten .. so folgt aus allem Vorherstehenden, wie /
grundfalsch eine solche naturalistische Ansicht sei. Götterkreise und Göttergene-
rationen ausschließlich aus „Verschmelzungen“ oder „Erinnerungen an verdrängte
Religionen“ zu erklären, hat stets seine Bedenken. Denn die ganzheitliche Kate-
gorie der Stufenfolge und des konkretisierenden Stufenwertes gehört nun einmal
grundsätzlich zu jeder Ausgliederung, daher auch zu jedem Polytheismus.
f .
Von den E t r u s k e r n
wissen wir, daß ihre obersten, die „verhüllten Götter", welche nicht
mit Namen genannt werden durften, über den in der Welt wal-
tenden Göttern standen. Es waren dies zwölf Gottheiten der Ober-
welt, an deren Spitze Tina (Zeus?) stand. Und auf sie folgten, wie
es scheint, die chthonischen und die Gottheiten der Unterwelt.
g .
D i e N e u p l a t o n i k e r
Endlich weisen wir noch auf die Mythologie der Neuplatoniker
hin. Gewiß handelt es sich hier um späte, gelehrte Betrachtungen,
die man glaubt uralten Zeiten nicht Zutrauen zu dürfen. Jedoch
scheint es uns, daß ihre Reflexionen über den Stufenbau der gött-
lichen Prinzipien Urgedanken aller mythologischen Religionen aus-
sprechen und in diesem Sinn auch aufbewahrten. Das scheinen uns
unter anderem die folgenden Worte Plotins zu bestätigen, welche
im Rigveda oder den Upanischaden ähnlich stehen, also zwei Jahr-
tausende älter sein könnten.
„Obwohl der Himmel vielfach geteilt und von unendlicher Mannigfaltigkeit
ist, stellt er doch durch die Kräfte der All-Seele eine Einheit dar; und ein Gott
ist durch sie diese Welt. Auch die Sonne ist ein Gott, denn auch sie ist beseelt
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Wolf Aly: Artikel Mythos, in: Paulys Realenzyklopädie der klassischen
Altertumswissenschaften, Bd 16, Stuttgart 1935, S. 1386.