[283/284]
313
B. G e w a l t t ä t i g e r G l a u b e n s e i f e r
Wo der Glaube in gewalttätigen Eifer oder religiösen Fanatismus
ausartet, muß zuletzt eine Schwäche des religiösen Empfindens der
Grund sein. Es ist bezeichnend, daß das religiöseste Land der Welt,
Indien, auch das Land höchster Duldsamkeit in Sachen der Reli-
gion ist.
Jene Veräußerlichung des religiösen Handelns, welche man reli-
giösen Fanatismus nennt, sucht ihren Vollzug des Rückverbunden-
heitsbewußtseins nur in ganz bestimmten religiösen Handlungen
oder Lehrmeinungen oder Gemeinschaftsbildungen — das ist in
Kirchen, Sekten — und verwirft damit praktisch die freie Inner-
lichkeit der Religion und Religionsübung. Die hohe Tugend der
religiösen Duldsamkeit, welche dem Vollzug des Rückverbunden-
heitsbewußtseins freien Spielraum läßt — je nach den Grenzen,
welche die jeweilige Religion ihrem Wesen nach ziehen muß —
fehlt ihm. Sinnlose, aus Haarspaltereien entstandene G l a u b e n s -
s p a l t u n g e n , K e t z e r v e r b r e n n u n g e n und alle anderen
Arten von G l a u b e n s v e r f o l g u n g e n oder sogar G l a u -
b e n s k r i e g e — sie alle sind als Formen eines solchen leeren
Fanatismus Zeichen mangelnder religiöser Innerlichkeiten und
Sicherheit.
Aus diesem Grund gehört dem religiösen Fanatismus auch an,
was sich als leeres, äußeres Handeln darstellt, nämlich: der einseitige
R i t u a l i s m u s , der starre N o m i s m u s (Gesetzlichkeit, Ge-
setzesreligion) und der E r g i s m u s, Werkhaftigkeit, das ist
Werkheiligkeit — bei welchen allen es an der nötigen Innerlich-
keit fehlt und überall der Wert ausschließlich auf das Äußere, auf
den formellen Vollzug, sei es des Ritus, des Gesetzes, des Werkes
gelegt wird.
/
Religionsgeschichtlich sind gerade diese Entartungen besonders
wichtig. Denn aus der übersteigerten, krankhaften Wertschätzung
des relativ Sekundären, des Ritus, Gesetzes, Werkes, sind auch alle
jene oben hervorgehobenen, unnatürlichen Opferdienste mit ent-
standen: die grausamen und zügellosen Orgien, die Kinder- und
Menschenschlachtungen, die Tierdienste, die blutigen Opfer zur
Ehre der Gottheiten oder Dämonen in so vielen alten Religionen.
Zum Teil muß man hier geradezu von S a t a n i s m u s sprechen.