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glauben nähert, sogar auch, wenn er die äußere Religionsübung
verschmäht, dem r e l i g i ö s e n N i h i l i s m u s .
Wie die Abschwächung echter Mystik zur M a g i e wird und wie hieraus
zuerst die Vorstellung h o h e r G ö t t e r entsteht, wurde früher an seinem Ort
dargelegt.
D. D e r Q u i e t i s m u s
Der Quietismus (von quies, Ruhe) lehrt völlige Passivität und
führt zur Weltflucht. Er entspringt aus dem Versinken in ge-
nießerische, unechte Mystik oder aus einer falschen Reflexion, welche
das Leben, gemessen an der mystisch empfindenden Uberwelt voll-
ständig entwertet. Allgemein kann man auch Schwäche religiösen
Empfindens als seine Grundlage bezeichnen: denn nur innere
Schwäche kann zur Einseitigkeit eines passiven, ja willenlosen Le-
bens führen. Absolute Passivität ist stets mit geistiger Schwäche,
ja Stumpfsinn verwandt. Daher auch quietische Askese sich öfters
dem Stumpfsinn nähert.
Ihrem reinen Wesen nach drängt die Mystik jedoch keineswegs
zu leerer Weltflucht, vielmehr ist sie intensivster innerer Tätigkeit
voll. Im echten, mystischen Leben gilt, wie früher nachgewiesen,
ein Wechselverhältnis von Schauen und Wirken, Eingebung und
Verwirklichung des in der Eingebung Erlangten, Innerlichkeit und
Äußerung. Allerdings gilt dieses Wechselverhältnis erst nach erlang-
ter mystischer Reife. Denn um zum inneren Schauen zu gelangen,
bedarf es vorheriger Übungen und diese wieder bedürfen, wenig-
stens bis zu einem gewissen Grade, äußerer Abgeschiedenheit, der
Versenkung, die vom handelnden Leben zunächst trennt.
Um die Mystik in ihrer Lebensdeutung zu verstehen, muß man
aber beachten, daß die Versenkung und ihre Erlebnisse große
i n n e r e S p a n n u n g e n in sich tragen, welche sich in Erkennt-
nis und auch in Handeln auswirken müssen. Ein / Zeugnis dafür
gibt die Mystikerin Mechthild von Magdeburg, welche in dem fol-
genden gewaltigen Hymnus an „Die Schöpfung, Ein Morgengesang“
uns die ungeheuren Spannungen anschaulich macht, die das Herz
des Mystikers bewegen
1
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Angeführt bei Franz Merkel: Die Mystik im Kulturleben der Völker, Ham-
burg 1940, S. 118.