E r s t e r A b s c h n i t t
Die Lehre vom Begriffe
Die überlieferte formale Logik pflegt den Begriff
(
όρος
,
terminus,
notio, conceptus) als die Summe seiner Merkmale zu erklären. Da-
mit sagt sie aber nicht mehr als eine Tautologie aus. Was würde man
dazu sagen, wenn der Gesellschaftswissenschaftler den Staat oder die
Volkswirtschaft, der Zoologe den Elefanten, der Chemiker das
Kochsalz als „die Summe ihrer Teile“ (oder „Personen“, „Zellen“,
„Elemente“) erklärten? Keinesfalls ist mit dieser oder einer ähn-
lichen Definition etwas über die Denkaufgaben, welche der Begriff
stellt und welche man lösen muß, will man sein Wesen begriffen
haben, gesagt:
das Verhältnis des Begriffs zu Sinnesempfindung und Vorstellung;
das Verhältnis des Allgemeinen und Besonderen in seinem In-
halte;
des Wesentlichen und Unwesentlichen;
des Denkens und Seins — um nur dieses zu nennen.
Es ist ein betrüblicher Anblick, gerade in der Wissenschaft der
Logik dem Musterbild einer Begriffsbestimmung zu begegnen, wie
sie nicht sein soll.
Gewiß gibt es auch bessere Definitionen, die wenigstens formell höher stehen,
aber auch da findet sich zuweilen Unglaubliches.
Ü b e r w e g sagt in seiner Logik
1
: „Der Begriff... ist diejenige Vorstellung,
in welcher die Gesamtheit der w e s e n t l i c h e n Elemente oder das Wesen
(essentia) der betreffenden Objekte vorgestellt wird“ — wie aber, wenn der
Begriff gerade jene „Vorstellung“ wäre, die auch das U n w e s e n t l i c h e mit
„vorstellt“, indem sie nämlich dieses von / jenem scheidet? Schon Aristoteles
unterschied ja u n w e s e n t l i c h e Bestimmungen (accidentia, συμβεβηκότα)
von den w e s e n t l i c h e n , dem Wesen (essentia, ούσία, είδος, μορψή, τό τί ήυ
είναι) angehörigen.
1
Friedrich Überweg: System der Logik (1857), 5. Aufl., Bonn 1882, S. 108 f.
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