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172

Hierbei ist indessen zu bedenken, daß es sich nicht um bloß be-

grifflich-verarbeitendes Denken, sondern um erlebendes, also eigent-

lich mystisches Denken handelt. Daraus folgt zuletzt auch die durch-

aus grundlegende Stellung, welche Eckehart dem Erkennen im

Haushalte des Geistes zuweist:

„Nimm das Wissen fort, so bleibt nur ein reines Nichts übrig, tolle scien-

tiam: remanet unum purum nihil.“

1

„Bekantnisse ist ein gruntveste und ein pfunmunt alles wesennes.“

2

Endlich ist daraus auch das Lob der W e i s h e i t und des

weisen Menschen verständlich. Denn die Grundlage der Weisheit ist

Gotteserfahrung.

„Der mensche, dâ diu wîsheit inne wonet, der ist als ein herberge gotes."

3

„Got hat den menschen liep, in deine wîsheit wonet.“

4

Und daran schließt Eckehart den wunderbarsten Herzenserguß:

„Diu wîsheit ist gelobet über golt unde silber: si ist ein ursprunc aller

sêlikeit. Si ist ouch diu sêlikeit selbe. Got der enmac deme menschen niht

groezers gegeben dan dise wîsheit, wan si ist diu groeste vreude unde sêlikeit. ..

Alle menschen begerent der wîsheit von natûre, mêr: der ist w ê n i c ,

d i e d i e g e w â r e w î s h e i t i n d e r w â r h e i t e n p f â h e n t e i n e n

o u g e n b l i c . . . .

Deme dan der êwigen wîsheit würde gegeben ein ougenblic, daz wêre diu

wîsheit alzemâle, wan si enhât an ir minre noch mê behalden an: si ist an ir

selber und an allen, den sie sich offenbâret, wan got selber ist diu wîsheit in

der wârheit. A l s e v i l w i r i n d e r w â r h e i t b e k e n n e n , a l s v i l

h â n w i r g o t , noch minre noch mê; wir hân dâ got in gote und uns in gote.“

5

1

Meister Eckhart: Die Lateinischen Werke, Fünfter Band, Teil II, heraus-

gegeben von Bernhard Geyer, Stuttgart 1937, S. 61.

2

Pf. 84, 13: Erkenntnis ist eine Grundfeste und ein Fundament allen Seins.

3

Pf. 379, 28: Der Mensch, dem Weisheit inne wohnt, ist wie eine Herberge

Gottes.

(Traktat I, der mit völligem Unrechte nicht für echt gehalten wird.)

4

Pf. 379, 30: Gott liebt den Menschen, der Weisheit besitzt.

5

Pf. 379, 32: Ober Gold und Silber sei die Weisheit gelobt: Sie ist der Ur-

sprung einer jeden Seligkeit. Sie ist (aber) auch die Seligkeit selber. Gott kann

dem Menschen nichts Größeres geben als diese Weisheit, denn sie gibt höchste

Freude und Seligkeit.

Alle Menschen begehren die Weisheit von Natur [bekanntlich sind das die

Anfangsworte der ,Metaphysik“ des Aristoteles: Alle Menschen begehren von

Natur nach dem Wissen], doch w e n i g e s i n d , d i e d i e w a h r e W e i s -

h e i t w i r k l i c h a u c h n u r e i n e n A u g e n b l i c k e r l a n g e n [von

der mystischen Erkenntnis gesagt]. Dem aber dann die ewige Weisheit nur einen

Augenblick gegeben ist, der hat die völlige Weisheit, denn sie gilt nicht nur

mehr oder weniger, sondern sie ist an sich in sich und in allen, denen sie sich

offenbart, denn Gott ist wahrlich die Weisheit selber. Soviel Wahrheit wir er-

kennen, soviel haben wir (von) Gott, soviel, nicht mehr und nicht weniger. Wir

halten dann Gott in Gott und uns in Gott.